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"Das Leben raubt einem mehr als der Tod"   25.01.2008   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Zwei Requien in einem Konzert zu vereinigen ist ein gewagtes Projekt. Kann sich jemand vorstellen, das Mozart-Requiem quasi als Vorprogramm für das Verdi-Requiem serviert zu bekommen? Sicher nicht. Die Leipziger Musikhochschule, bekannt für gelegentliche nonkonforme Einfälle, wagt ein derartiges Projekt trotzdem, setzt allerdings klare Markierungen, was den generellen Gestus und damit auch die trotz gleichen Themas stets wahrnehmbare Differenziertheit der Auseinandersetzung mit dem grimmen Schnitter anbelangt. Ergo eröffnet "Marthiyat Al-Hallaj" von Elia Salah El Koussa den Abend. Übersetzt heißt der Werktitel "Totenklage für Al-Hallaj", der Protagonist war ein berühmter Sufi-Dichter, der aufgrund diverser von der islamischen Obrigkeit als häretisch empfundener Ideen anno 922 hingerichtet wurde. Etwas mehr als 1000 Jahre später setzte der syrisch-libanesische Lyriker Ali Ahmad Sa'id, auch genannt Adonis, Al-Hallaj ein Denkmal in Gedichtform, und der Komponist Elia El Koussa, über den das Programmheft nichts weiter als das Geburtsjahr 1979 verrät, vertonte das Gedicht, allerdings nicht in klassischer Manier, die entweder das komplette Gedicht in Musik umsetzt oder aber den kompletten Text singen bzw. rezitieren läßt und mit Musik unterlegt, sondern in einer Mischform, die Elemente beider Herangehensweisen verknüpft. Das Gedicht ist im Programmheft in deutscher Übersetzung nachzulesen, und für alle, die kein Programmheft haben, kommt Bariton Ezra Jung vor Konzertbeginn auf die Bühne und rezitiert die Übersetzung; im Stück selbst wird es in arabischer Sprache verarbeitet, der kaum einer der Besucher im vollen Saal mächtig gewesen sein dürfte. Im Einleitungspart rezitiert Jung die erste Strophe noch einmal, diesmal aber in Originalsprache; die dazugehörige Musik gibt sich äußerst sinister, besteht aus ausgedehnten Baßflächen (wäre hier eine Metalband am Werke gewesen, hätte man diese Flächen als Drones bezeichnet), in die hier und da einzelne Harfeneinwürfe gewoben werden, wobei offenbleiben muß, ob der gegenüber dem rhythmischen Grundschema (ein solches ist hier noch feststellbar, was keinesfalls die Regel bei Dronebands darstellt) versetzte erste Harfeneinsatz so gewollt oder ein Spielfehler war (wäre so etwas bei Brahms passiert, hätte man es auch ohne vorliegende Partitur sofort als Fehler einordnen können, aber bei den Neutönern ist das ja alles nicht mehr so einfach ...). Nichtsdestotrotz läßt sich die Spannung förmlich mit Händen greifen und wird nur durch ein technisches Problem sabotiert: Irgendwo in der Licht- oder Lüftungsanlage des Saals knistert irgendetwas vor sich hin und stört den musikalischen Eindruck doch etwas. Das Problem soll sich in den folgenden vier Sätzen allerdings marginalisieren, denn einerseits steigt der Lautstärkepegel der Musik deutlich an, und andererseits hört das Geknister irgendwann so unvermittelt auf, wie es begonnen hat. Das originale Gedicht hat vier Strophen, die ersten beiden werden mit Instrumentalsätzen umgesetzt - da die erste aber bereits in der Einleitung rezitiert wurde, bleibt somit die zweite die einzige, die keine verbale Darbietung erfährt. Ob das Absicht ist? Zur Meinungsbildung hier die Übersetzung der zweiten Strophe:
Die Zeit legt sich auf deine Hände
Und das tosende Feuer in deinen Augen
Lodert zum Himmel auf
Musikalisch ist der zugehörige Satz derjenige, der noch am ehesten an gängige europäische Harmoniemodelle anknüpft, allerdings an die neutönenden des 20. Jahrhunderts, nicht etwa an die der vorherigen Centurien. Aber auch hier finden sich gelegentliche extrem schroffe Breaks, die einen nicht geringen Reiz des Tonmaterials ausmachen, allerdings an nicht wenigen Stellen auch mit der großen "Warum"-Frage winken, welche nach einmaligem Hören des Werkes definitiv nicht beantwortet werden kann. Hier und da dürften sie natürlich textdeterminiert sein, und man kann gerade im ersten Satz einige klassische Textanalogien finden, etwa wenn der aufsteigende Stern von Bagdad mit fiesem Donner unterlegt wird oder das Textende "in unserem wiederkehrenden Tod" ein wunderbares Moriendo-Ende in der Musik zur Seite gestellt bekommt. Satz 3 wiederum läßt den arabischen Background am stärksten zum Vorschein kommen (der Komponist schreibt in der Werkeinführung, er habe quasi das komplette Tonmaterial aus der Basis einer traditionellen arabischen Melodie gewonnen), wenn gleich zu Beginn die erwähnte Melodie über einigen Baßflächen erklingt. Allerdings soll auch dieser Satz einige fremde Einflüsse implantiert bekommen - wenn man sich etwa den reinen Drumpart anhört, der auf den arabischen Part folgt, denkt man automatisch an Leonard Bernstein und seine West Side Story-Suite. Generell ist der Satz aber eher flächig gehalten, die schroffen Breaks bleiben selten, statt dessen kommen einige Instrumente zu kurzen Soloeinlagen über schwach ausgeprägten Klangteppichen, was etwa bei der Solovioline recht niedliche Wirkungen hervorruft, die durch zwei harte Schläge vor Satzende wirkungsvoll kontrastiert werden. Bariton Jung hat übrigens im gesamten Stück mehr sprechzusingen als "klassisch" zu singen, und da er auch noch ein wenig nahöstlich aussieht und eine starke Mimik an den Tag legt, kommt man sich vor, als hätte man tatsächlich einen arabischen Prediger vor sich, der einem die Vorzüge der orientalischen Lebensweise einzubleuen versucht. Das paßt durchaus zum Gesamtgestus des Stücks, das sich gar nicht so klagend, sondern bisweilen eher kämpferisch gibt, so etwa im brausenden Intro des vierten Satzes, das allerdings wieder in eine gestörte Elegie zusammenfällt, generell aber deutlich voluminöser agiert als der dritte Satz. Nichtsdestotrotz bekommt auch der vierte und mit ihm das ganze Werk auf die Zeile "O Dichter der Geheimnisse und Wurzeln" einen dieser traumhaften wie traumatischen Moriendo-Schlüsse, welcher den Hörer seinen Frieden mit dem Stück machen läßt, der unterwegs nicht selten, vor allem durch die arg schräg-schrill angelegten Holzbläser, ins Wanken geraten war. Vom einmaligen Hören her allerdings klingt zu viel im Stück nach Baukastenprinzip, als daß man es unbedingt auf der eigenen Beerdigung ansetzen würde, und zudem haben wir hier ein klassisches Beispiel für die Verletzung der Orchesterökonomie: 98% der Wirkung des Stücks hätte man auch mit 50% des Bühnenpersonals erzielen können, und das, wofür hier vier Schlagwerker besetzt waren, spielt im Progressive Metal einer alleine. Trotzdem: Ein nicht uninteressantes Stück, und das Publikum applaudiert auch deutlich mehr als freundlich.
Würde ein Komponist heute ein Werk mit "Ein Deutsches Requiem" betiteln, es stünde in kurzer Zeit die Antifa vor seiner Tür und würde ihren Unwillen bekunden. Solche Probleme hatte Johannes Brahms weiland zum Glück noch nicht, wenngleich er mit der Betitelung durchaus ein wenig Etikettenschwindel betrieben hat, denn man erwartet doch irgendwie etwas anderes als "nur" ein Requiem, das sich vom herkömmlichen lateinischen dadurch unterscheidet, daß es anstatt des lateinischen Textes eine Handvoll Bibelstellen auf Deutsch vertont. "Deutscher" (im Sinne von "patriotischer") Gehalt darf also im Werk mit der Lupe gesucht werden, wenn man nicht allein die erwähnte Textumstrickung als patriotische Tat ansieht. Die nach vorn verlängerte Bühne im Großen Saal der Hochschule (die ist original schon nicht gerade klein) läßt erahnen, daß der Hochschulchor in riesiger Besetzung antreten wird, und genau das tritt ein und entwickelt sich zu einem Problemfall der ganzen Aufführung. Besteht sonst die Gefahr von chorsinfonischen Konzerten eher im drohenden akustischen Untergang des Chores, so tritt hier der umgekehrte Fall ein: Nicht selten singt der Chor das Orchester geradezu nieder, und selbst von der Orgel, die an der Saalrückwand auf Bühnenebene steht, bleibt akustisch streckenweise kaum etwas übrig, woran auch die Positionierung der höchsten Stufen des Chorpodestes direkt vor dem Prospekt einen Anteil haben dürfte, denn so wirken die Choristen ungewollt als lebende Schalldämmung der Orgel. Diese Unausgewogenheit ist schade, denn generell kann man sowohl dem Chor als auch dem Orchester eine gute Leistung bescheinigen (zumindest auf das bezogen, was man denn hört), einige im Argen liegende Momente werden durch einige mit zauberhaftem Potential wieder neutralisiert. Hatte Manolo Cagnin das erste Werk des Abends noch sehr klar strukturiert dirigiert, so steht jetzt Dirigierprofessor Roland Börger am Pult, beginnt mit sehr weichen Bewegungen, wird aber im Verlaufe des Stücks spürbar härter und nervöser, ohne daß das aber entscheidende Konsequenzen für die Musik hätte. Nicht überzeugen kann Sopranistin Julia Sophie Wagner, die zwar generell eine schöne Stimme hat, aber viel zu linienhaft singt (wenn es ein Werk dieser Kategorie gibt, wo man jedes Wort verstehen muß, dann dieses), viel zu viel Vibbbbbbbbbrrrrrrrrrato auspackt und vom Dominanzfaktor her eigenartigen Wandlungen unterlegen ist: Gegen die komplette Besetzung kann sie sich akustisch nur in den Höhenlagen durchsetzen und geht in den tieferen unter, während sie die fast kammermusikalisch anmutenden Passagen, mit denen Brahms den fünften Satz einleitet, zu sehr dominiert. Auch die nötigen Bezüge, das Miteinander mit dem Chor gegen Ende dieses Satzes wollen sich nicht so recht einstellen. Deutlich mehr überzeugen kann Bariton Ji-Su Park. Dem hört man im dritten Satz bei "ist wie nichts vor dir" zwar an, daß seine Stimmuntergrenze unvorteilhaft unterschritten wurde, aber ansonsten singt er einen soliden Part, ist dort zu hören, wo er zu hören sein muß, rollt ein für einen Asiaten äußerst übungsbedürftiges rrrrrrrr über die Bühne, bleibt zu jeder Sekunde deutlich textverständlich und klettert im Vergleich zum Leonberger-Konzert eine Woche zuvor noch eine Qualitätsstufe weiter nach oben. Der Chor gönnt sich hier und da einige Aussetzer, wenn manche Passagen ungewollt zerhackt werden (Einleitung des siebenten Satzes!), bekommt aber andere Stellen, die mit zunehmender Kopfzahl immer schwieriger zu bewältigen werden, erstklassig hin, etwa den Dynamikwechsel im zweiten Satz am Übergang von "Aber des Herrn Wort bleibet in Ewigkeit" zu "Die Erlöseten des Herrn werden wiederkommen". Auch beim Orchester wechselt viel Licht mit gelegentlichem Schatten, wenn man etwa den holprigen Schluß des ersten Satzes gedanklich neben die prächtigen Streicherunisoni im sechsten Satz bei "und die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden" stellt. Die positiven Aspekte überwiegen generell, und so fällt nach einer sehr langen Applausbeginnpause der Beifall auch recht frenetisch aus, genügt jedoch nicht, um den Protagonisten noch eine Zugabe zu entlocken.



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