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Matrix Live   08.10.2011   Leipzig, Arena
von rls

In der Zeit des Stummfilms war es üblich, während der Vorstellungen Livemusiker eine entsprechende klangliche Untermalung herstellen zu lassen, bisweilen durchaus in Orchesterstärke, mit fortschreitender Entwicklung aber oft nur noch von einem einzigen Mann, der eine Kinoorgel spielte und mit deren mannigfaltigen Klangwirkungen ein ganzes Orchester zu ersetzen in der Lage war. Mit der Entwicklung des Tonfilms aber wurden all diese Musiker beschäftigungslos, und nur einige schafften es, ihre Fähigkeiten fortan als Filmscorekomponisten oder in einem auf das Einspielen von Filmscores spezialisierten Orchester einzubringen und damit quasi in der Branche zu bleiben. Im Rahmen der "Back to the roots"-Bewegung und der Renaissance längst totgeglaubter kultureller Phänomene hat aber auch das Livemusizieren zu Filmen einen zwar spärlichen, aber doch wahrnehmbaren zweiten Frühling erlebt. An den wenigen noch erhaltenen Kinoorgeln laufen vielmals Liebhaberprogramme mit Filmen, die man in den großen Kinos nie zu sehen bekommt, ein Projekt geht sogar im Sommer mit einer auf einem LKW montierten Kinoorgel auf Tour. Eine Kooperation wie diejenige dieses Abends allerdings hat von ihrer Dimension her immer noch Seltenheitswert: 2006 stieß der Dirigent Frank Strobel auf den sieben Jahre zuvor in die Kinos gekommenen und enorm erfolgreichen Film "The Matrix", verliebte sich in dessen Soundtrack und beschloß, aus diesem eine live spielbare Orchesterversion zu erstellen. Als Partner gewann er das MDR Sinfonieorchester, das in seiner Embryonalzeit schon einmal bewiesen hatte, wie wichtig es für die progressive technische Entwicklung ist, und in den letzten Jahren mal mehr, mal weniger erfolgreich versucht, aus der Einnischung in die Grundversorgung wieder herauszukommen und auch wieder mit Programminnovationen zu glänzen.


Das Experiment war trotzdem gewagt, hierfür gleich die Arena Leipzig zu wählen, einen sehr großen Veranstaltungsort. Aber der Mut wurde doppelt belohnt, zunächst im Hinblick auf die Gesamtbesucherzahl - das Parkett war fast voll besetzt, auch auf den Rängen blieben nur wenige Plätze leer, und die Summe wird mit 4700 Menschen angegeben. Wichtiger aber dürfte die Tatsache gewesen sein, daß es sich zu einem nicht geringen Teil um Menschen handelte, die sonst eher nicht zur Gruppe derer gehören, die man regelmäßig in den regulären Konzerten des Orchesters im Leipziger Gewandhaus oder an anderen Orten Mitteldeutschlands trifft. Sicherlich dürfte die Wahl des Films diese Entwicklung begünstigt haben (hätte man andere Zielgruppen ansprechen wollen, wären wohl die hypothetischen Soundtracks zu Luis-Trenker- oder Roy-Black-Filmen angesagt gewesen), und wenn es denn das Ziel war, eher klassikfernen Publikumsschichten zu demonstrieren, was ein live spielendes Orchester für eine prima Sache ist, dann wurde dieses Ziel voll und ganz erreicht. Klar: Jeder Besucher dürfte anhand seines ganz persönlichen Erfahrungshorizontes sowohl bezüglich des Films als auch bezüglich Orchestermusik andere Eindrücke gewonnen haben, aber die allgemeine Zufriedenheit dürfte deutlich überwogen haben. Strobels Arrangement bot allerdings auch für die verschiedensten Emotionen eine Projektionsfläche, und ein live vor sich hinschluchzendes Solocello ist in bestimmten Szenen halt von der Wirkung her nicht zu übertreffen, ebenso wie einen die volle orchestrale Wucht in anderen Szenen wie ein Schützenpanzerwagen überrollte. Während des Films selber war es für den Beobachter natürlich schwierig, die Leistung des Orchesters zu bewerten (für den Rezensenten erschwert sich die Lage nochmals, da er "The Matrix" nur einmal gesehen hat, bereits im letzten Jahrtausend, und daher die originale Filmmusik von Don Davis, die natürlich auch Strobel als roter Faden diente, nicht mehr so richtig im Ohr hat); interessanterweise ging Strobel auch das Wagnis ein, noch den kompletten Abspann musikalisch zu unterlegen und dabei minutenlang auf minimalistische Klangfächen herunterzuschalten, die von monumentalen Orchestertürmen gerahmt wurden - und das Publikum blieb diszipliniert sitzen und lauschte bis zum Schluß, wonach es in herzlichen Applaus ausbrach, aber natürlich keine Zugabe serviert bekam (was auch?).

Über den Film selbst sei an dieser Stelle nichts Näheres ausgeführt, seine Handlung über die Vorgaukelung einer Parallelwelt im Hirn der Menschen, nachdem in Wirklichkeit die Künstliche Intelligenz die Kontrolle übernommen hat, dürfte bekannt sein und hat in der Kulturwelt interessante Reaktionen hervorgerufen, wobei die Idee an sich nicht neu ist. Erich von Däniken etwa dürfte sich über den Film sehr gefreut haben, und auch in der Musik sind Fragestellungen nach der Realität des scheinbaren Bewußtseins und dessen Quellen keineswegs neu (man erinnere sich etwa an Tad Moroses "Sender Of Thoughts" aus dem Jahre 1995). Daß die Produzenten von "The Matrix" vorher ein wenig zuviel Rambo konsumiert haben, steht auf einem anderen Blatt. Interessanterweise hat Strobel in seiner Adaption einige rockige Beiträge umorchestriert, die Discoszene, als sich Neo und Trinity zum ersten Mal begegnen, aber mit den Originalklängen belassen. Als Geniestreich darf die Entscheidung gewertet werden, nicht die deutsche synchronisierte Fassung des Films zu zeigen, sondern die Originalfassung mit Untertiteln - so nimmt das Auge die Worte auf, und das Ohr kann sich auf die Musik und die eingewobenen Geräusche (derer es deutlich weniger gibt als in der Originalmusik) konzentrieren. Zudem ist gleich noch ein anderes Problem gelöst: An einigen Stellen übertönt das Orchester markante Textstellen doch deutlich (es sind nur wenige, aber eben markante), und hier bekommt man, da man ja den englischen Text nicht hören muß, sondern den deutschen Untertitel lesen kann, trotzdem die gesamte Handlung mit. So fügte sich ein Detail ans nächste, man bekam noch die Botschaft "Liebe ist stärker als der Tod" mit auf den Weg, und nach zweieinhalb Stunden war ein eindrucksvolles Crossover-Projekt (sic!) zu Ende. Der Begleiter des Rezensenten, ein Gastkritiker des CrossOver, äußerte beim Hinausgehen übrigens noch den Wunsch nach einem gleichartigen Projekt mit dem ersten Teil von "Der Herr der Ringe". Schaffen wir das noch vor der nächsten großen Umprogrammierung unserer heutigen Matrix?

Fotos: Tom Schulze



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