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Hochschulsinfonieorchester   02.11.2013   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Same procedure as every year? Nicht ganz. Zwar steht auch anno 2013 ein Konzert des Sinfonieorchesters von Leipzigs Musik- und Theaterhochschule zum Todestag des Hochschulnamensgebers Felix Mendelssohn Bartholdy auf dem Programm, aber die Leitung obliegt nicht mehr Dirigierprofessor Ulrich Windfuhr (der in der Semesterpause im Sommer nach Hamburg gewechselt ist), sondern Gastdirigent Matthias Foremny, während bei der Konzertwiederholung am Folgeabend im Großen Saal der Hochschule traditionsgemäß wieder Dirigierstudenten am Pult stehen. Foremny ist sonst Erster Gastdirigent der Leipziger Oper, hat das Gewandhausorchester also regelmäßig vor sich, aber nicht im riesigen Gewandhaus, sondern im kleinen Orchestergraben. Inwieweit ihm die Akustik des Gewandhauses schon in Fleisch und Blut übergegangen ist, kann somit nicht eindeutig gesagt werden - zumindest bleibt am Ende der Ouvertüre C-Dur MWV P 2 vom mit dem Konzert zu ehrenden Felix Mendelssohn Bartholdy ein leicht zwiespältiger Eindruck übrig. Das Ding ist unter dem Beinamen "Trompeten-Ouvertüre" bekannt, neben den beiden Trompeten sind gleich drei Posaunisten besetzt - und trotzdem entfaltet das Blech an diesem Abend nicht genügend Glanz, bleibt irgendwie matt und läßt an markanter Wirkung deutlich zu wünschen übrig. Das verwundert ein wenig, zumal Foremny und das Orchester in allen anderen Komponenten dieses Stückes nämlich eine durchaus überzeugende Leistung bieten. Foremny legt eine gekonnte Straße durch die halsbrecherischen Passagen mit barocker Anmutung, und selbst die ruhigen Teile entwickeln noch einen ziemlichen Drang nach vorn. Einzig in der zweiten Blechkaskade funkelt dann auch mal kurz ein wenig goldener Glanz von rechts hinten, aber er kann sich nicht halten, und die Schlußfanfaren wirken wieder merkwürdig stumpf, nachdem das Orchester zuvor über weite Strecken dieses eigentlich ziemlich hübschen, aber selten zu hörenden Stückes das Kunststück fertiggebracht hat, gleichzeitig flüssig, fröhlich und feierlich zu klingen.
Die Konzerte des Hochschulsinfonieorchesters sind auch immer eine gute Trainingsspielwiese für hoffnungsvolle Solisten, die an der Hochschule studieren. Einer von denen übernimmt den Solopart in Johannes Brahms' 2. Klavierkonzert - und schnell wird klar, daß man es bei diesem Stanislav Khegai mit einem Ausnahmetalent zu tun hat, von dem noch Großes zu erwarten sein dürfte. Butterweichen Dialogen mit dem Horn im Einleitungsteil des ersten Satzes folgt ein langes Klaviersolo, das mit seiner variationsreichen Ausdrucksgestaltung schon Khegais enorme emotionale Fähigkeiten demonstriert. Und von denen lebt dann auch das gesamte Konzert: Khegai ist eben kein ostasiatischer Klaviertiger, wie sie zu Hunderten herangezüchtet werden (und das, obwohl auch er eine Zeitlang in Korea studiert hat), sondern da steckt viel mittelasiatische, in diesem Fall kasachische Seele drin (seine genaue Volkszugehörigkeit in diesem Kontext ist dem Rezensenten nicht bekannt), und das hört man auch, wenn diverse Läufe perlen wie ein Gebirgsbach in den Nordketten des Tienschan, was sich perfekt mit einigen eher nach deutschem Wald tönenden Hornpassagen paart. Es sei nicht verschwiegen, daß gegen Satzende einige Timingunsicherheiten im Zusammenspiel auftreten, aber die Ausdrucksstärke von Khegais Spiel macht das locker wieder wett und läßt auch den relativ kraftlosen Satzschluß vergessen, in dem man statt dessen einigen wirklichen psychotischen Perlen im Klavierspiel lauschen darf.
Ungewöhnlicherweise ist dieses Konzert nicht drei-, sondern viersätzig, und somit kommt jetzt noch nicht der langsame Satz, sondern ein Allegro appassionato, das die Musikwissenschaft gemeiniglich als düster zu bezeichnen pflegt. Da wollen aber weder Foremny noch Khegai mitgehen: Nachdem die eröffnenden Timingprobleme behoben sind, entwickelt Foremny auch hier ziemlichen Zug zum Tor und ersetzt die große Dunkelheit eher durch eine Sonderportion Dramatik, die er mit ein paar dann allerdings wirklich finsteren Ausbrüchen garniert. Im Schlußteil kommen die sinistren Einfälle diesmal nicht vom Klavier, sondern zur Abwechslung mal von den Geigen.
Gespannt sein durfte man anhand der beiden vergangenen Sätze auf das Andante. Der kammermusikaffine Klang muß sich hier in der Tat erst finden, aber er wird bald sowohl sicher als auch schön, wenngleich auch weiterhin nicht immer alle Beteiligten ganz übereinstimmende Meinungen vom Einsetzen haben, was man in der kleinen Besetzung natürlich besonders deutlich hört. Freilich entwickelt das Orchester auch Ehrgeiz: Klingt das Holz mal etwas angestrengt, dann strengt es sich sofort mehr an, um nicht mehr angestrengt zu klingen (ein Paradoxon, aber korrekt), und Khegai spielt erneut mit viel Gefühl, aber ohne schmalzig zu werden. Der zauberhafte Satzschluß mit seiner Tempoentwicklung ins Nichts muß nochmal gesondert hervorgehoben werden.
Kurioserweise nimmt Foremny im abschließenden Allegretto grazioso den Schwung dann erstmal raus, wenngleich die spielerische Lockerheit trotzdem gewahrt bleibt. Das ändert sich erst irgendwo in der Satzmitte - zum Schwung tritt im Falle des recht ausladend rotierenden Dirigenten sogar noch der Hüftschwung, und alle Beteiligten geben ihr Bestes in allen Tempolagen, sei es eine Reduzierung oder der enorm flotte Schlußteil. Das, aber nicht nur das, sorgt für Begeisterung im halbvollen Gewandhaus, und so läßt sich Khegai auch noch zu einer spannungsgeladen-düsteren Zugabe hinreißen, in der selbst ein knisterndes Bonbonpapier im Saal so störend wirkt wie ein Sattelschlepper.
Jean Sibelius gehört zu den Komponisten, die man gemeiniglich als Angehörige der nationalromantischen Schule zusammenzufassen pflegt, obwohl es natürlich nach wie vor ein gewichtiger Unterschied ist, ob es sich bei der jeweiligen Nation nun um Tschechen, Russen oder wie in diesem Falle Finnen handelt. Die große Tondichtung "Kullervo" hätte Sibelius durchaus bereits als seine 1. Sinfonie titulieren können, aber er tat es nicht, sondern hob diese Bezeichnung für ein Werk auf, das keinem als solches definierten Programm folgt, sondern dem Ideal der absoluten Musik huldigt, selbst wenn die Begleiterin des Rezensenten hinterher durchaus nicht zu Unrecht von "vertontem Schlechtwetter" spricht. Aber auch in Finnland lugt mal die Sonne durch die Wolken, wenn etwa gleich in der Einleitung des ersten Satzes Eva Jurischs Soloklarinette dem Hörer über die Wange streicht, bevor er von den zweiten Violinen per Sturmbö die Mütze vom Kopf geweht bekommt. Die spätromantischen Ausbrüche dieses Satzes vermögen den riesigen Gewandhausraum klanglich prima zu füllen, und Foremny beherrscht auch die von Sibelius geforderte Taktik, große Steigerungen ins Leere laufen zu lassen, meisterhaft. Zwar gelingt auch hier nicht alles mit allerhöchster Sicherheit (die letzte Steigerung etwa holpert etwas vor sich hin), aber hier die Erwartungen an einen Bombastschluß nicht zu erfüllen, sondern eine Art harmlosen kleinen Appendix anzuhängen muß man sich als Komponist auch erstmal trauen.
Im Andante braucht das Orchester ein bißchen, um die ungeplante Nervosität des Satzbeginns abzulegen, findet sich später aber zu wunderbarer Holzkammermusik wieder. Foremny wiederum beweist, daß er Tempo keineswegs als Allheilmittel einzusetzen gedenkt, wie man anhand der ersten Konzerthälfte hätte mutmaßen können - die Variabilität in diesem Satz verlangt anderes, und auch das beherrschen die Studenten und er. Zwar findet ausgerechnet die Triangel hier keine Bindung zum Rest des Orchesters, aber das machen die zauberhaften wellenartigen Flöten locker wieder wett, und der Kontrast zwischen dem veritablen Nordsturm und dem stimmungsvollen leisen Finale weiß gleichfalls zu überzeugen.
Den Scherzosatz hat Sibelius eher knapp inszeniert, wobei Foremny hier wieder verstärkt auf die Trumpfkarte Tempo setzt, aber von seinen Studenten auch mit Spielsicherheit belohnt wird. Dafür ist im Trio deutlich mehr Differenzierung gefragt, und der Dirigent verwandelt sich hier in eine Art Stehaufmännchen, um aus den Musikern noch eine Extraportion Gestaltungswillen herauszukitzeln - durchaus mit Erfolg.
"Quasi una fantasia" hat der Komponist über den Finalsatz als Zusatzangabe geschrieben, und das nicht ohne Grund: In epischer Breite reiht er allein schon im Einleitungsteil eine große Idee an die andere, zeichnet ein monumentales Eingangsbild, wechselt dann wieder in Holzkammermusik (die Flötenfraktion ist sich hier anfangs etwas uneins, bevor sie wieder Prächtiges leistet), bevor er weiträumige Orchesterlandschaften mit ein paar Schroffheiten ausbreitet. Die großen dynamischen Gestaltungsanforderungen vor dem großen Ausbruch meistern alle Beteiligten ebenso souverän wie den zäh-feierlichen Schluß, der eine enorme Energie vor sich herschiebt, die aber nicht etwa in einer bombastischen Katharsis, sondern in einem dieser Schlußwitze aufgelöst wird: Die Pauke wirbelt, als gäbe es danach kein Morgen mehr, aber es gibt eben doch eins, nämlich zwei völlig harmlose Streicherzupfakkorde - dann ist Schluß, und das Publikum ist berechtigterweise sowohl vom Werk als auch von der musikalischen Leistung an diesem Abend begeistert.



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