www.Crossover-agm.de KIM NYBERG: Nordisk Symfoni
von ta

KIM NYBERG: Nordisk Symfoni   (Tutl)

1899 komponiert der Finne Jean Sibelius eine Tondichtung, die Weltberühmtheit erlangen sollte: Die "Finnlandia" wurde im Ausklang des neunzehnten Jahrhunderts zum Leitstück der finnischen Nationalbewegung und ist auch gute hundert Jahre später noch das Erste, was der gemeine Bürger mit finnischer Romantik assoziiert. Kim Nyberg startet 106 Jahre später ein dem in einigen Punkten nicht ganz unähnliches Unterfangen: "Nordisk" ist eine Tondichtung, dem hohen Norden geweiht, romantisch anmutend. Der Unterschied zu Sibelius: Texte und Worte, 106 Jahre Musikgeschichte.
Letztere äußert sich im Einbinden U-musikalischer Elemente in das klassische Gewand der knapp halbstündigen Sinfonie, erstgenannte in kleinen Gedichten des finnischen Poeten Matias Eriksson, die parallel zur ablaufenden Musik rezitiert werden. Auf deren Inhalt indes wird der Rezensent im Folgenden näher nicht eingehen, weil dieser sich jenen aufgrund einer im Moment unüberbrückbaren Sprachbarriere - vorgetragen wird in sechs skandinavischen Sprachen, die nördlichste Sprache, die der Rezensent zu sprechen vorgibt, ist Deutsch - nicht aneignen konnte.
In sechs Sätze gliedert sich das Nybergsche Werk und man tut gut daran, diese Gliederung nicht allzu ernst zu nehmen, weil zum ersten Pausen zwischen den Sätzen fehlen, zum zweiten auch nicht jeder Satz zwingend einen eigenen Charakter aufweist. Die klassische sinfonische Struktur wird bei Nyberg aufgelöst in ein eher Soundtrack-artig anmutendes, vom Lyngby-Taarbaeck Sinfonieorchester, dem laut Promotionbeilage leitenden Amateurorchester Dänemarks, umgesetztes Musikstück, das schwärmerisch-melodiös, bilderreich, klangmalerisch und zu passenden Gelegenheiten auch kitschig daherkommt. Die sechs Sätze im Durchlauf:
1: "Nordisk" beginnt als Blitz, der vom Himmel fährt. Einen Satz mit einem Tutti des Orchesters zu beginnen, das etwa eine Viertelsekunde bzw. eine Note dauert und sogleich von einem zurückhaltenden Piano abgelöst wird, ist ein denkbar spannender Auftakt, den man eher von Stravinsky erwarten würde. Beinahe lupenrein romantisch zart baut sich das Allegro der Streicher auf, nur um sanft abzufallen und dem Sprecher Entfaltungsraum zu bieten. Das fein gezeichnete, warme Klangspektrum aus Holzbläsern und Violinen sorgt für die verträumte Stimmung, in die eine sanft verklärte Fanfare - klingt paradox auf dem Papier, schön im Ohr - eintritt.
2: Stilistisch partiell an die minimalistische, repetitive Musik der Sechziger Jahre angelehnt präsentiert sich der zweite Satz. Das simple Klavierthema etwa, in das sich das sanfte Sprechflöten des die nordische Lyrik mit angenehmer Stimme Rezitierenden bettet, erinnert an Erik Satie und hat beinahe meditativen Charakter. Komponist Nyberg legt keinen Wert auf melodische Komplexität, polyphone Abläufe sind äußerst selten, die Einfachheit der melodischen Struktur sorgt aber andererseits für den stark visualisierenden Gesamtcharakter der Sinfonie. Hier werden Bilder transportiert.
3: Der folkloristische Einfluss Finnlands kommt erstmals deutlich zum Tragen - man höre nur auf das sehr schöne, eingängige Leitthema des Klaviers oder den melodischen Abgang des Piano/Gitarren-Unisono nach anderthalb Minuten. Allerdings werden hier ebenfalls die Soundtrack-Reminiszenzen ausgereizt und in Streicherthemen überführt, die sich im Endeffekt partiell als die süßliche Begleitung einer Pilcher-Verfilmung eher anbieten als als Elemente einer klassischen Sinfonie. Möglicherweise um diesen wenig schmeichelhaften Umstand wissend, hat Nyberg die entsprechende Passage mit so viel zu sprechendem Text zugekleistert, dass die Musik eher Background-Funktion hat, was dem anspruchsvollen Rezensenten wiederum prinzipiell nicht schmeckt. Hrmpf.
4: Mit dem vierten Satz bekommt der Hörer schließlich tatsächlich noch so etwas wie das Scherzo der Sinfonie präsentiert. Mehr Pomp, mehr Tempo, sogar tanzbare, weil folkloristische Stellen. Erstmals tritt, wenngleich nur für ein halbes Dutzend Male den-Mund-öffnen und "Aaah"-Sagen, ein Chor in Erscheinung, das Blech besorgt erhöhte Lautstärke, gegen Ende zupfen abermals verspielte Konzertgitarren und es erklingen ganz bescheiden Percussiontöne. Die Instrumentierung macht sicher neben der Eingängigkeit der von Nyberg gewählten musikalischen Themen prinzipiell einen großen Reiz des Stücks aus. Die vielen Streicher nämlich, Gitarrenklänge und mittelhohe Frequenzen (auch bei Klavier und Blech) sorgen für eine Wärme und Annehmlichkeit, die so gar nicht bei einer Sinfonie auf den kalten Norden zu erwarten wäre. Auch die Dynamik der Sinfonie beschränkt sich auf ausgewählte, nämlich leise bis mittellaute Bereiche, das einzige nenenswerte Forté bildet den kurzen und überraschenden Schlussakkord des vierten, abwechslungsreichen Satzes (selbst das den ersten Satz einleitende Tutti ist kein Forté).
5: Absolutes Unikum für eine Sinfonie (der Rezensent kennt zumindest nichts Vergleichbares): Das Orchester fährt ein Akkordeon auf, das, mit Tango-Rhythmen kombiniert, beinahe das Tanzbein herausfordert. Sprechstimme und dezente Orchestrierung ergänzen sich perfekt, schweben und verlieren sich dabei etwas in Nichtigkeit. Ein leicht zermürbender Moment. Hier wäre Textverständnis vermutlich nicht von Nachteil.
6: Zum Dahinschmelzen schließlich der letzte Satz. Ein verwirrend atonales Motiv wird leichtfüßig in eine tonale harmonische Struktur überführt (soll heißen: was nicht passt, wird passend gemacht), ehe zentrale Themen des ersten Satzes wieder angeführt werden und in tiefes Moll getränkt sehnsüchtige Empfindungen erzeugen. Die Art und Weise, wie die Blechabteilung im Fanfarenthema aufsteigt, ist wirklich exorbitant (kompositorisch und spielerisch) und auch der Chor sorgt mit einer letzten Klage für Seelenrütteln, ehe das klassische Pomp-Ende ad absurdum geführt wird, indem es vom Orchester zwar angedeutet, jedoch nicht ausgespielt wird. Stattdessen besorgt die letzte halbe Minute die Gitarre allein und ganz leise. "Nordisk" endet als kleines Bächlein, das ins Tal rinnt.
Was bietet Nybergs "Nordisk"? Eine halbe Stunde U-Musik, die sich als E-Musik tarnt - vielleicht das. Schweren Mutes, aber leichten Fußes, so verläuft die Sinfonie des gerade 29-Jährigen. Streckenweise gutklassig - besonders die beiden umgreifenden Sätze sind äußerst gelungen -, streckenweise auch an der Grenze zum Banalen. Über zweite Einschätzung lässt sich aber trefflich streiten, denn ein Anderer wird sicherlich gerade das Banale an Nybergs Komposition als bewusstes Stilmittel zur Bildererzeugung loben. Aber so oder so: "Nordisk" ist ein schönes Stück Musik. Und als ob das nicht reichte, befindet sich auf der CD auch ein CD-ROM-Teil, über den sich wählen lässt, in welcher der sechs Sprachen die Eriksson-Gedichte "Nordisk" verzieren sollen.
Kontakt: Kim Nyberg, Skovlporten 5, 5, DK-2840 Holte, Denmark (Komponist); TUTL, Reynagöta 1, FO-100 Tórshavn, Faroe Islands (Label); www.saunakiosk.com; www.tutl.com

Tracklist:
1. Sats 1
2. Sats 2
3. Sats 3
4. Sats 4
5. Sats 5
6. Sats 6
 




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