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Schöne neue Welt
von Steffen Keitel
(Columnäe aus CrossOver
3/98)
Nur das Rauschen der Blätter
im Wind, ein paar Vogelstimmen, ab und zu die Stimmen der spielenden Kinder
im Garten, so schön kann Urlaub sein irgendwo auf dem Lande, und vor
allem - keine Musik. Im Haus weder ein Radio noch ein Kassettengerät
oder gar ein CD-Player.
Da bleibt Zeit genug zum Nachsinnen
z.B. darüber, welche Musik man gerade gern hören möchte,
welche Titel in der Plattensammlung noch fehlen, und man denkt an die Zeiten
des Mangels noch vor zehn Jahren, als jede nichtkonforme Schallplatte unter
hohen finanziellen Opfern aus ungarischen Gefilden am DDR-Zoll vorbei mühselig
importiert werden mußte. Dieser Urinstinkt des Jagens und Sammelns
hatte etwas Berauschendes. Musik stiftete Identität, man hörte
intensiver, weil die Auswahl begrenzt war. Musik hatte etwas Elitäres,
das ins Ideologische hinüberspielte. Und sie war nicht überall
präsent. Heute ergießt sich aus jeder öffentlichen Tiolette,
aus Praxiswartezimmern, Kaufhäusern und Bahnhöfen ein Schwall
von Weg-hör-Musik, von akustischer Belästigung, in der man zu
ertrinken droht.
Die Urlaubszeit ist abgelaufen,
bei der Rückfahrt in heimische Gestade endet das Durchkurbeln aller
Musiksender im Autoradio mit dem resignierten Griff zur Kassette. Das übliche
Gedudel von Herz-Schmerz-Schlagern, Schürzenjägern und Billig-Pop.
Eine "flächendeckende" Versorgung mit musikalischem Abraum, aber für
wen? Besteht denn unsere Gesellschaft nur noch aus Menschen, die samstags
in verschlafenen Wohnparks in ballonseidenen Jogginganzügen ihre Mittelklassewagen
putzen? Brauchen wir diesen musikalischen Einheitsbrei im Zeitalter der
vielbeschworenen Medienvielfalt?
Eine "schöne neue Welt",
in der sich die Medien ihr eigenes höriges Auditorium schaffen. Irgendwann
bestimmt dann das Angebot die Nachfrage. Die Macht der Gewohnheit minimiert
den Aufwand für innovative Programmkonzepte, die auch andere Musikliebhaber
befriedigen würden.
Aber gehen wir noch weiter:
Im Computerzeitalter wird das Internet-Shopping immer beliebter und auch
für jeden Normalverbraucher möglich. Die Plattenindustrie hat
das Netz als gigantischen PR-Apparat erkannt. Mit dem Projekt "Music On
Demand", das seit einem Jahr in der Testphase läuft, könnte sich
bald jeder seine eigene CD zusammenstellen, sich einzelne Sahnehäubchen
aus dem Netz holen und für diese bezahlen. Eine solche Warenkorb-Mentalität
wäre wahrscheinlich das Aus für viele anspruchsvolle Bands und
ambitionierte Plattenlabels mit eigenen Konzepten. Das Angebot im Netz
würde sich auch hier aus den Songs speisen, die aus den überregionalen
Videokanälen herunterflimmern und guten Absatz versprechen. Schon
heute hat eine Band, die sich nicht auch optisch verkauft, als Werbeträger
für Markenklamotten und Softdrinks fungiert, schlechte Karten auf
dem Musikmarkt.
Nun aber genug der düsteren
Visionen eines ewig Gestrigen ...
Denn es gibt sie ja noch, die
Leute mit Gitarren, Baß und Schlagwerk, die in Kellern, Kammern und
Kneipen proben und dann auf kleinen Bühnen stehen und drauflosmusizieren,
egal ob rockig, folkig oder punkig. Und wenn der Funke überspringt,
ist es ein kleines Fest für die Seele. Unsere Kirchen tun gut daran,
Räume für die jungen Musiker offenzuhalten.
Steffen Keitel ist Musikwissenschaftler
und arbeitet als redaktioneller Mitarbeiter in der Kirchen- und Musikredaktion
des MDR-Fernsehens.
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