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Der Strukturwandel in der Kirche und seine Folgen
für die Kirchenmusik
von Hagen Kunze
(Columnäe aus CrossOver
1/98)
Es war in den letzten Monaten
nicht zu überhören: Der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche
Sachsens droht finanzieller Ruin. Wer gedacht hat, allein die Kirche sei
der Ort, in dem es nicht um Kürzungen und Entlassungen geht, der sieht
sich eines besseren belehrt. Gerade der Verein, der immer am lautesten
mahnt, wenn Menschen auf die Straße gesetzt werden, schickt sich
nun an, unsozialer zu handeln als die, auf die einst das mächtige
Sozialwort niederprasselte.
"Sachsen braucht 30 Prozent
weniger Pfarrer" schallte es im letzten Dezember durch den Blätterwald.
Tragisch. Denn dieses Damoklesschwert trifft nicht die verbeamteten Pastoren,
sondern eine ganze Reihe junger, gut ausgebildeter Menschen, die sich im
Idealismus der Wendejahre für den Pfarrerberuf entschieden haben.
Gerade unter den Theologiestudenten herrscht heutzutage schon oft ein Konkurrenzkampf,
wie ihn nicht einmal BWL-Studis vor dem Eintritt ins Managerdasein erleben.
"Werdet katholisch" rufen Zyniker angesichts des Nachwuchsproblems in unserer
Schwesterkirche. Doch die restriktiven Einschränkungen, die dieser
Vorschlag mit sich bringt, sind nicht gerade schillernd für hunderte
Pfarrer in spe.
Wer aber sieht neben dieser
Diskussion die Misere, die der Kirchenmusik demnächst droht? Denn
Kantoren kann man - ebenso wie Verwaltungsmitarbeitern - schneller kündigen
als Pfarrern. Für Ärger sorgte jüngst ein Papier, in dem
festgelegt wird, daß auf 1600 Gemeindeglieder ein Pfarrer, eine halbe
Katechetin und ein viertel Kantor entfallen. Die Idee ist für Bürokraten
verlockend: Schließlich sind doch Kantoren alle auch Künstler
und können sich so ganz gut über Wasser halten. Daß in
Sachsen, wo Christen längst in der Minderheit sind, nur wenige Gemeinden
an die ominöse Zahl heranreichen, interessiert dabei kaum. Einst waren
die zahlreichen Leipziger Gotteshäuser für etwa 500.000 Christen
gebaut worden, durch Rückgang der Bevölkerung und Kirchenaustritte
sind davon nur knapp 70.000 übriggeblieben. Was aber bekommen zukünftige
Kantoren an den Hochschulen zu hören? "Die Musik ist die zweite Säule
der Verkündigung - ebenso wichtig wie die Predigt", heißt es
da. Und wie sieht demnächst die Praxis aus? Zwei oder mehr Gemeinden
teilen sich einen C-Kantor. Der natürlich kaum da ist, weil er ja
noch einen richtigen Beruf hat. Denn seine 35 Prozent ergeben sieben Wochenstunden
pro Gemeinde.
In Leipzig wird derzeit in
Sandkastenspielen kräftig gerechnet. Zweimal saßen die Kirchvorstände
von Leipzig-West schon beienander, um das Unheil abzuwenden. Im letzten
Moment scheint man erkannt zu haben, daß nur Zusammenarbeit die einzige
Lösung ist. Als erstes erwägt die Luthergemeinde die Zusammenlegung
mit Thomas / Matthäi. Andere prüfen die Bildung von Kirchspielen,
unter denen das von vier Gemeinden in Plagwitz, Schleußig und Lindenau
das größte sein soll. Das bündelt die lästige Verwaltung
und schafft Platz für die eigentlichen Aufgaben (trotz gegenteiliger
Meinung im Bezirks- und Landeskirchenamt hat die Kirche ja noch etwas anderes
zu tun, als nur sich selbst zu verwalten). Ehe aber auch in diesen Gemeinden
die letzten persönlichen Differenzen ausgeräumt sind, muß
noch viel Holz gehobelt werden. Doch die Zeit naht. Denn wenn die Kirchen
sich untereinander nicht einigen, droht das in Dresden beschlossene Papier.
Ein Beispiel für drastische Auswirkungen gefällig? Die traditionsreiche
Nikolaikirche hätte dann nur noch Anrecht auf einen 35-Prozent-Kantor.
Und ein ehrenamtlicher C-Kantor an der Stätte, an der schon Bach wirkte
- das wäre dann wirklich einmalig.
Hagen Kunze
- Studium der Musikwissenschaft,
Journalistik und Philosophie in Leipzig, Graz und Halle
- Veröffentlichungen
in zahlreichen Tageszeitungen, Zeitschriften und Fachpublikationen
- wissenschaftliche
Mitarbeit am Projekt "Rheinsberger Musikgeschichte" der Musikakademie Rheinsberg
seit 1994
- Co-Autor des Buches
"Jeder nach seiner Fasson - musikalische Neuansätze heute" (hg. von
Ulrike Liedke) 1997
- Musikkritiker der
Leipziger Volkszeitung und der Ostthüringer Zeitung Gera
- Mitarbeit im Kirchenvorstand
der Ev.-Luth. Philippusgemeinde Leipzig-Lindenau, beauftragt für Kirchenmusik
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