www.Crossover-agm.de HEINRICHS PLATTENKISTE (16.06.2002)

von Thomas Heyn

Die 1874 komponierten "Bilder einer Ausstellung" von Modest Mussorgski kennt jeder vor allem in der Orchesterfassung von Maurice Ravel. Mittlerweile sind über 40 verschiedene Fassungen für die unterschiedlichsten Instrumentalkombinationen auf dem Markt. Nun legen zwei bemerkenswerte Interpreten - der 1953 als Sohn europäischer Eltern in Bolivien geborene Komponist und Gitarrist Jaime Mirtenbaum Zenamon und der 1968 in Rom geborene und am Mozarteum Salzburg ausgebildete Geiger Alessandro Borgomanero - eine Version dieses Klassik-Welthits für Violine und Gitarre vor, die sie "Pictures" genannt haben. Auf den ersten Blick scheint dies ein abenteuerliches Unterfangen, denn beide Instrumente sind zu einer "tour de force" gefordert, um dem Originalwerk in seiner ganzen Schönheit gerecht zu werden. Die Platte hat etwas viel Hall, aber das musikalische Ergebnis ist insgesamt vorzüglich.
Anhörenswert sind vor allem die "Promenaden" mit dem berühmten Thema, das "alte Schloss" (von der Gitarre in einen mystischen Fantasy-Nebel getaucht), die originellen "Küchlein in ihren Eierschalen", die in dieser Besetzung einen völlig anderen, sehr witzigen Charakter bekommen. Bei "Samuel Goldenberg und Schmuyle" agiert die Violine fast im Stile eines Klezmer-Geigers und macht den Gehalt des kleinen Charakterstückes sehr sinnfällig.
Zwei von Zenamons eigenen Kompositionen sind ebenfalls eingespielt worden. Die "Suite caricaturas Nr. 2" bietet Tanzsätze und kontrapunktische Formen, die an ältere Musikmodelle angelehnt sind, alles durchweg entspannend und wohlklingend. Viel interessanter sind die "3 Retrados", in denen der Komponist zwar auch barocke Formen zitiert, aber gleichzeitig auch viele Elemente jazziger und lateinamerikanischer Musizierformen verwendet. Besonders im "Diálogo", dem abschließenden 3. Satz musizieren die Interpreten mit hingebungsvollem Spielwitz und in heiterer Lockerheit. Hohes Lob!
PICTURES
Jaime Mirtenbaum Zenamon (Gitarre), Alessandro Borgomanero (Violine)
kreuzberg records (kr 10 074)



Heitor Villa-Lobos wurde 1887 in Rio de Janeiro geboren. Er lebte ab 1923 in Paris und bereicherte das Gitarrenrepertoire um wesentliche Werke. Dies betrifft vor allem die 12 Estudos, seine mit allerlei gitarristischen Raffinessen und Schwierigkeiten gewürzten "legendären" Studienwerke, die Andres Segovia, der Wegbereiter des modernen Gitarrenspiels 1953 erstmals bei Eschig herausgegeben hat. Wer den Mut hat, diese Etüden auf einer CD einzuspielen, muss sich außergewöhnlichen Maßstäben stellen. Iwan Tanzil, 1963 in Jakarta, Indonesien, geboren und aus einer chinesisch-holländischen Familie stammend, wird selbst hochgreifenden Erwartungen gerecht. Nach 3 bemerkenswerten CD-Veröffentlichungen der letzten Jahre, legt der Künstler nun seine Einspielung der "complete Guitar works" von Heitor Villa-Lobos vor. Tanzil hat einen unaufdringlichen, kultivierten Ton und verfügt über eine ausgefeilte Skalen- und Akkordtechnik. Nichts klappert, klirrt oder zerrt. Und Tanzil schlägt mitunter rasante Tempi an, die keinen Vergleich scheuen müssen. Auch die rhythmischen Raffinessen dieser oftmals lateinamerikanisch inspirierten Musik beringt er überzeugend zu Gehör. Lyrische und verträumte Klänge benutzt Tanzil für die "5 Chôros", die die CD einleiten, allesamt Frühwerke von Villa-Lobos, die noch in Brasilien entstanden sind und denen man die Verwurzelung in der europäischen Folklore noch deutlich anhört.
Für die abschließenden "5 Préludes" (entstanden 1940) erarbeitete sich Tanzil wohlausgewogene Versionen, angefüllt mit zarten Klangstudien und agogischen Abstufungen.
Sehr anhörenswert!
HEITOR VILLA-LOBOS - The Complete Guitar Works
Iwan Tanzil (Gitarre)
kreuzberg records (kr 10 061)
Vertrieb: Ama-Verlag, Wesselinger Straße 2-8 / 50321 Brühl.


Wer erinnert sich nicht der guten alten Zeiten, als Songwriter wie Bob Dylan Stadien füllten und im amerikanischen Radio Wettbewerbe stattfanden, wer seine meist genuschelten Texte am schnellsten und richtigsten enträtseln konnte. Oder als Liedermacher wie Franz Josef Degenhardt, Reinhard Mey und Gerhard Schöne es fast bis in die Charts schafften. Gar nicht zu reden von Heroen der Kleinkunst wie Hermann van Veen, der die Grenzen zur Performance, zum Film und zum Theater überwand. Sollten sie ausgestorben sein, das kleine Lied, das mehr oder weniger erotische Chanson, der harte politische Song? Nein, sind sie nicht. Aber sie blühen arg im Verborgenen. Das könnte mit den kritischen Inhalten und der deutschen Sprache zusammenhängen, die das Publikum ja direkt verstehen kann. Chansons, literarische gar, sind dem angeordneten Zeitgeist: nämlich "amüsiert euch mal lachend zu Tode und konsumiert schön viel dabei" vollkommen entgegengesetzt und könnten womöglich der geplanten flächendeckenden Volksverdummung ein bisschen Widerstand entgegensetzen.
"Chanson totale" steht für das Leben von Anna Haentjens, die sich bereits während ihres Musikstudiums mit der Interpretation von Chansons befasste. Sie tritt mit einer Vielzahl von literarischen Programmen auf. "Kinderzeit", ihre 1. CD, enthielt Texte von J. W. Goethe, Heinz Kahlau, Erich Kästner, Jochen Kramer u.a. in Vertonungen von Norbert Linke, Manfred Schmitz, Norbert Schultze und ihrem festen Begleiter Sven Selle. Besonders die leisen Töne des Berliner Komponisten Manfred Schmitz "liegen" der Haentjens, diese vermag sie ausdrucksstark umzusetzen. Lieder wie "Die Entwicklung der Menschheit" und "Traum vom Fliegen" sind inspirierte Versionen. "Die Nordsee persönlich" betitelte Anna Haentjens ihre zweite CD mit Liedern der Lale Andersen, darunter Hits wie "Lilli Marleen", "Kleptomanin" und "Ein Schiff wird kommen". Die gnadenlose Härte, mit der diese Songs manchmal geboten werden, ersetzt Anna Haentjens durch sanfte Unaufdringlichkeit, die den Liedern insgesamt wohl bekommt.
Beide CD: Thorofon Schallplatten KG / 30892 Wedemark / Pf. 10 02 32 (Tel. 05130-79931)


Susanne Grütz und Hubertus Schmidt, das ungekrönte Königspaar der sächsischen Kleinkunstszene macht nach 7 Programmen (darunter dem überaus erfolgreichen "Cafe Knax") und einigen hundert Liedern und Duetten miteinander Schluss und beschenkt die treue Fan-Gemeinde zum Abschluss mit einem Sampler ihrer gelungensten Lieder. "... Und sage gar, was mein Begehren ist" und andere große Lieder des Leipziger Dichters Andreas Reimann, der dem Komponisten Hubertus Schmidt lange Jahre vom Dissidentenknast Bautzen II bis in den Ruhm und die Nachwendedepressionen die Treue gehalten hat, sind ebenso darunter wie der Brecht-Klassiker "Wenn sie trinkt". Der unvermeidliche "Klodeckelsänger" und die "Moritat vom Gasanstaltsdirektor" werden in Erinnerung bleiben, vor allem aber die Hymne "Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben" von Dylan Thomas in der genialen Nachdichtung von Erich Fried. Diese nichtreligiöse Auferstehungslied voller krudem Trost-Nichttrost vermag es sicher, auch härteste Herzen zum Schmelzen zu bringen. Leider fand sich kein Label für diese wertvolle Dokumentation. Interessenten können sich nur an den Komponisten direkt wenden und sollten das bald tun.


Das Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe (ZKM) war vom 22.–24. März 2002 Treffpunkt der internationalen Medienkunst-Avantgarde. Über 100 Einzelkünstler und Gruppen aus 15 Ländern präsentieren beim Festival "INTERMEDIUM 2" Produktionen zum Thema "X oder O: Identitäten im 21. Jahrhundert". Zehn öffentlich-rechtliche Radiosender übertrugen das 18stündige Festivalprogramm bis einschließlich 28. März flächendeckend in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Elektronische Musik funktioniert zuzunehmend wie der Stein der Weisen: mit der richtigen Ausrüstung lässt sich aus jedem Klang jeder andere generieren. Die computergestützten digitalen Sudelküchen für die modernen Ton-Hexer und Klang-Magier bieten Manipulationsmöglichkeiten, die einem damit unvertrauten Kopf nur als Trauma erscheinen können. Doch Kunst kann auch mit diesem avancierten Material erzeugt werden. Wenn auch die Begriffe "Kunst" oder "Musik" radikal bis an die äußerste Grenze ausgedeutet und ihrer kanonisierten Bedeutung beraubt sind, so ist doch nicht auszuschließen, dass gerade auf diesem – von der Öffentlichkeit eher weniger beachteten - Gebiet die eigentlichen schöpferischen Leistungen der Gegenwart vollbracht werden.
Das Label INTERMEDIUM RECORDS (Landshuter Str. 7 in 85435 Erding / www.intermedium-rec.com / Telefon 08122-89202-4) präsentiert diese anspruchsvollen Hörwelten auf der Doppel-CD "From one2two". Die beiden prall gefüllten Scheiben (über 150 Minuten) dokumentieren den Zeitraum zwischen den beiden Festivals "INTERMEDIUM 1" (November 1999, Berlin) und "Intermedium 2". Sie enthalten neben 26 Ausschnitten aus allen bisherigen 12 Veröffentlichungen auch noch zwei unveröffentlichte Titel.
Die Kunst bei dieser Kunst besteht darin, den toten, industriell vorgefertigten Klangmaterial Individualität und "Leben" einzuhauchen und so zu verwandeln, dass andere Menschen sich dafür interessieren. Dabei führen viele Wege in den musikalischen Olymp. Vom nervensägenden Voll-auf–die-Zwölf-Geräusch-Chaos bis zur meditativen Fläche mit ihren kaum wahrnehmbaren Veränderungen ist alles vertreten. Auf CD 1 liefert Thomas Meinecke mit dem Track "Welche Farbe hat Maria Carey" eine gelungene Montage nusikalischer Schichten ab, die sich allmählich verdichten und einander verdrängen. Dass der Titel in guter alter Fluxus-Tradition nichts mit dem Inhalt zu tun hat (oder doch?), versteht sich von selbst. Das "Concerto in Koch-Minor" von SPARKS jagt Streicherklänge im Stile von Rondo Veneziano durch allerlei digitale Foltergeräte, während eine Männerstimme euphorisch dazwischenruft, wie "wunderbar" alles sei. Das klingt eher lustig formuliert, aber der Höreindruck ist von gespenstischer Eindrücklichkeit.
CD 2 beginnt mit dem "original theme" von Daniel Kluge und Edouard Stork. Die beiden Klang-Tüftler verbinden die Aggressivität von ursprünglichem Hard-Rock mit entrückter Meditation. Die beiden Ebenen werden zusätzlich von rasenden Linien und Flächen durchkreuzt und durchschossen und immer mal wieder überschlagen sich alle Elemente in einer Konsequenz, die ARTE nicht in tiefster Nacht zu senden sich wagen würde. Meisterhaft!
Philip Jeck montiert in "Vinyl Coda IV" romantische Klavierklänge mit hässlichen Schabgeräuschen. Auch das liest sich banal, ist aber von beeindruckender Suggestion.
Von Hans Platzgumer und Ca Mi Tokujiro wird eine fünfteilige Suite mit dem Titel "Shonen A" vorgestellt. Auch hier ist eine starke Textpassage Anlass für die Hervorbringung eigenständig geformter Hör-Welten: "Das, was man nicht aufhalten kann, kann man nicht aufhalten. Das, was man nicht töten kann, kann man nicht töten."
Dieser bemerkenswerte Satz möge auch auf die vorgestellten Werke zutreffen. Man kann diese Art Kunst nicht ignorieren oder aufhalten. Sondern Sie – die Hörer - sollten sich hineinbegeben in eine große und freie Welt unerhörter Klänge und eindrucksvoller ästhetischer Positionierungen. Mut!



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