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Neues aus der Theaterwelt (21.08.2005)
von Henner Kotte
Ein Haus "Zur schönen Aussicht"
Geänderte Koordinaten im nt und bei Enrico Lübbe
Das Etablissement ist heruntergekommen. Der Kellner hat nichts zu kellnern. Der Chauffeur nix zu chauffieren. Der Chef ist pro forma der Chef. Eine Freifrau hält sich das Etablissement und die Männer, sie haben ihr Auskommen und sie das Vergnügen. Man hat sich eingerichtet mit schöner Aussicht. Doch dann erscheint sie, Christine. Mit dem Wirte verband sie ehedem ein Verhältnis, jetzt ist sie zurück und guter Hoffnung. Nein! sagen die Männer, welch widerliches Komplott. Doch Christine kam aus echtem Gefühl. Die Balz kann fortgesetzt werden. Mit welchem Ausgang?
Auch im nt hat sich Manches geändert. Der Intendantenstuhl ward geräumt, neue Regisseure verpflichtet. "Zur schönen Aussicht" ist am 17. September der Beginn neuer Spielzeit. Es inszeniert: Enrico Lübbe. Für das "Theater der Zeit" gehört er zu Deutschlands wichtigsten Regisseuren der Nachwuchsgeneration. Was heißt, Enrico ist 30. Seine Arbeiten sah man in Magdeburg, in Stuttgart, Oldenburg oder Köln. Das Schauspiel zu Leipzig gab Enrico die Chance, sich auszuprobieren. War "Disco Pigs" noch Probe der Mittel, so beeindruckte "Übergewicht unwichtig: unform" ob seiner bewußt gesetzten Gesten. Enrico inszeniert nicht das große Spektakel, es sind die kleinen Katastrophen, die ihn interessieren. Geschichten vom Ich und vom Wir, vom Gestern, das das Heute sein kann.
Daß er am Theater tätig wolle und wird, war sich Enrico selbst nicht gewiß. Obwohl ihn die Fernsehnation Ost als Gesicht des "Alfons Zitterbacke" kannte. Sechs Folgen spielte er den Titelhelden und Streiche. Erfolg inklusive und mediale Aufmerksamkeit. Gar das Titelbild der FF-Dabei zierte er. Doch nach dem Erfolg zurück in die Schule und die Platte von Schwerin. Musiker hätte er werden wollen, für Kulturjournalismus und die Universität Leipzig hat er sich entschieden. Enrico arbeitete neben dem Studium für Rundfunkstationen Ost und West. Und dann der Zufall und das Angebot: Regieassistenz am Theater? Enrico nahm die Herausforderung an und im Regiestuhl Platz. Seine Inszenierungen beeindruckten. "Bash" (ehedem auch im Hallenser Thalia) ist ein greuliches Stück über die Monster nebenan, "Die Glasmenagerie" der Traum eines Mädchens voller Gefühl. Enricos Regie kalkuliert Gesten, Gänge, Bilder sehr genau, die Katastrophen sind leise und erschrecken gerade deshalb.
Ödön von Horvath ist Österreicher und hat einen selten schwarzen Humor. Einen, der auf Enricos Wellenlänge liegt. Ja, diesen Autoren wolle er gern inszenieren, sagte er dem Intendanten. Die Premiere ist am 17. September, doch sie ist am Abend im Theaterhaus nicht die einzige. Die neue Intendanz überrascht mit einem Spektakel. Ein "Seefahrerstück" wird gegeben. Und nächtens mordern alte Damen serienweise mit "Arsen und Spitzenhäubchen". Es stellen sich die neuen Gesichter am Hause vor. Manch altem wird man wieder begegnen. Neues Theater hat in Halle guten Ruf. Das ist auch Enrico Lübbe bewußt, er schätzt den Vertrauensvorschuß des Publikums, er gibt Bestes. Halle wird sich von manch liebgewordener Sehweise und Spielplangewohnheit trennen / müssen. Denn einjeder weiß: "Mit dem Wirt ändert sich's Haus." Das ist auch gut so.
"Zur schönen Aussicht" heißt's Etablissemant. Die Alten können an eine andere Zukunft nicht so recht glauben. Die junge Christine will im Haus ohne Hoffnung nicht länger bleiben und geht. Vielleicht kommt sie wieder, wenn's Haus da noch steht. Das nt steht mitten in Halle, und wir haben rein gar nichts gegen solch "schöne Aussicht" und kommen sehr gern.
Die Sklaven der Alten
Tilman Gersch verteidigt in der Neuen Szene das "Recht auf Jugend"
"Der Herrgott hat gesagt, es sollen zweierlei Arten von Menschen sein, alte und junge. Die Jungen sollen genießen, sollen sich freuen über die Welt - sollen frei sein und fröhlich leben. Die Alten aber sollen arbeiten und die Welt weiter bringen. Und damit das Los gleich ist und niemand Unrecht geschieht, soll ein jeder einmal jung und einmal alt sein. Wie aber die Alten gesehen haben, daß die Jungen so frisch waren und so fröhlich waren, da hat sie der Neid gepackt, und weil sie die Stärkeren waren, so haben sie die Jungen untergekriegt und haben gesagt: Ihr seid unser Eigentum, ihr gehört uns. Denn ihr lebt nur von unserer Arbeit! Und von da ab waren die Jungen die Sklaven der Alten."
Da brüllt einer seiner Wut heraus. Nicht nur die Alten sind geschockt. Hans streitet für sein "Recht auf Jugend", wenn's sein muß mit Gewalt. Das Stück ist eine Entdeckung und beinah hundert Jahre alt. 1913 schrieb es sich ein 17jähriger Arnolt Bronnen von der Seele. Am 25. September hat das "Recht auf Jugend" in der Neuen Szene Premiere. Wir sind begierig. Denn der Kampf von jung und alt ist stetig. Ein jeder kämpft ihn mit. Mit allen Mitteln. Auch wenn es scheinen mag, die Alten werden gegenwärtig immer jünger, und werbetechnisch reicht die Jugend bis jenseits der 50. Wo sind die Plätze heute, die Jugend noch besetzen kann? "Ick bin allhier", sagt der Alte. Die übergreisende Gesellschaft ist Realität und nicht Fiktion. Hans Harder nimmt sich sein Recht, er ist kaum 17, er weiß, "kommen wird der Tag, ... wo wir nicht mehr leiden werden um unsere Jugend."
Tilman Gersch stellt uns Fragen. Als Sohn. Als Vater - der Älteste seiner vier durchlebt derzeit die Fährnisse der Pubertät. Als Regisseur. 1964 in Berlin/O. geboren war der Lebensweg geradeaus. Schule. Abi. Ein Attest verbat den Grundwehrdienst. Studium der Regie an der Hochschule Ernst Busch. Berufsabschluß. Dann Wende und Neuorientierung. In dieser anderen Gesellschaftsordnung arbeitete sich Tilman Gersch schnellstmöglich frei. Beginnende Aufmerksamkeit kam aus dem Westen. Er inszenierte in Hamburg, Köln und Hannover. Themen: Jugend, Utopien, Unzufriedenheit. Wir sahen von ihm "Frühlingserwachen", "Kabale und Liebe", jetzt probt Tilman Gersch in Leipzigs Neuer Szene.
160 Seiten faßte der Wunsch- und Alptraum des Jungschriftstellers Arnolt Bronnen: Er hatte sein erstes Stück geschrieben, "eine hinreißende Rede an die ganze Welt" - Generationenterror, Vatermord, sexuelle Findung, "dumpfes Ahnen" und "heiliges Fühlen". Das Stück ist weniger Theater denn Pamphlet. Die Fassung des Leipziger Schauspiels reduziert gekonnt auf Person und den Kampf ums Ideal. Die junge Garde des Schauspielriege gibt dem "Recht auf Jugend" Ausdruck: Jörg Malchow, Anja Schneider, Torben Kessler, ...
"Kommen wird der Tag,
Wo die Jugend nicht mehr euer Knecht sein wird.
Wo Vernunft nicht mehr das Fühlen morden wird.
Wo wir nicht mehr leiden werden um unsere Jugend.
Da werden wir heraustreten aus eurer Kultur.
Dann ist es aus mit eurer Gewalt.
Dann wird die Jugend hoch - hoch über euch stehn.
So wie ich höher bin als alle - -"
Ist der Kerl wahnsinnig? Wer kann diese Jugend verstehen? Fühlen wir mit? "Unser Stück ist eine Frage", sagt Tilman Gersch.
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