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The Turn Of The Screw   07.05.2004   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

In der Leipziger Musikhochschule muß ein Programmverantwortlicher einen besonderen Narren an Benjamin Britten gefressen haben, denn großformatige Werke dieses Komponisten standen im neuen Millennium schon auffällig oft im Spielplan. Jüngstes Exempel: die Kammeroper "The Turn Of The Screw", mit der sich das Hochschulopernprojekt nach dem 2003er Abstecher zur Künneke-Operette "Der Vetter aus Dingsda" nun wieder in Operngefilde zurückbegab. Ob die Tatsache, daß "The Turn Of The Screw" anno 2004 gerade seinen 50. Geburtstag feiert (Britten schrieb das Werk seinerzeit für die Biennale in Venedig), eines der Auswahlkriterien war, weiß ich nicht, aber die Vermutung entbehrt nicht einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Fünf Vorstellungen in drei verschiedenen Besetzungen weist der Terminplan aus; eigentlich hatte ich einen anderen Termin im Blickfeld, aber durch den Ausfall der eigentlich für den 7.5. geplanten Redaktionssitzung wurde eine Umdisponierung auf die Premiere möglich.
Und wie das bei Premieren mitunter so ist: Es geht einiges schief, da die Technik geruht, dem Team mancherlei Streiche zu spielen. Das beginnt schon vor dem Anpfiff, denn das Kassensystem gibt seinen Geist auf und sorgt für ein gewisses Chaos bei der Platzwahl im ordentlich gefüllten, aber nicht ausverkauften Großen Saal der Hochschule. Dann öffnet sich der Vorhang nur zur Hälfte und muß manuell zur Seite gezogen werden, und schließlich macht auch der Computer, der die Hintergrundbilder steuert, kurzzeitig für sein Betriebssystem Schleichwerbung. Damit sind aber fast alle Probleme vom Tisch, denn von nun an klappt nahezu alles. Nur die Variante mit den deutschen Übertiteln auf einem oberhalb der Bühne aufgehängten Monitor sorgt noch für die eine oder andere gerunzelte Stirn. Sinnvoll ist diese Einrichtung zwar zweifellos (nicht jeder ist des Englischen als der verwendeten Originalsprache so gut mächtig, daß er die Texte bis ins Letzte verstanden hätte), nur läßt die Lesbarkeit der Übersetzungen zu wünschen übrig, speziell dann, wenn auf der Bühne etwas mehr Licht herrscht - es ist in der kurzen Zeit des Blickwechsels zwischen der Bühne und dem Monitor nahezu unmöglich, die Augen auf die unterschiedlichen Lichtverhältnisse einzustellen (schaut man längere Zeit auf den Monitor, geht's besser, aber dann entgeht einem ja die Handlung auf der Bühne, und das ist auch nicht Sinn und Zweck der Sache). Das ist ein generelles Problem, an dessen Lösung die Hochschultechniker tüfteln müssen - Beleuchter Horst Theurich verschafft an diesem Abend zumindest etwas Linderung, indem er die Bühne meist recht sparsam beleuchtet und dadurch zwei Fliegen mit einem Streich von der Wand holt: Der Lumineszenzkontrast zwischen Monitor und Bühne bleibt über weite Strecken noch aushaltbar, und die recht düstere Atmosphäre der Oper erfährt eine wirkungsvolle Untermalung, nicht zuletzt auch in den Szenen, wo die Schatten, welche die Personen an der Hauswanddekoration werfen, fast noch bedrohlicher wirken als die Personen selbst.
Aber nun endlich zum Werk selbst: Die Oper beruht auf der gleichnamigen Novelle von Henry James aus dem Jahre 1889. Kurz zusammengefaßt handelt es sich um eine Geistergeschichte, in der eine Gouvernante in ein altes britisches Landhaus kommt, um zwei Kinder zu erziehen, bald jedoch mit zwei Geistern konfrontiert wird, welche ebenfalls Einfluß auf die Kinder zu gewinnen bzw. diesen zu erhalten suchen, denn es handelt sich um den unlängst verstorbenen Dienstboten sowie das gleichfalls frisch verblichene frühere Kindermädchen des Gutes. Unterstützt durch die Haushälterin, versucht die Gouvernante, die Kinder vor dem Einfluß der beiden Geister zu retten. 16 Bilder bzw. Szenen reihte Britten für das Werk aneinander, eingeleitet durch einen Prolog, den Daniel Ewald in fast renaissanceoratorischer Manier gibt (wobei Britten hier auf ein Klavier baut, das etwa Schütz natürlich noch nicht zur Verfügung hatte). Die Szenen sind jeweils durch instrumentale Teile miteinander verbunden, bei denen der Nicht-Zwölftontechnik-Geübte erst im Komponistenlexikon nachlesen muß, daß es sich tatsächlich um Variationen ein und desselben umgekehrten Zwölftonthemas handelt. Über weite Strecken unternimmt Britten erfolgreiche Versuche, die paranoide Stimmung der Handlung auch entsprechend musikalisch zu untermalen (Michael Köhler hat das recht klein besetzte Orchester mit geringen Ausnahmen sehr gut im Griff), wenngleich die Erzeugung von musikalischer Düsternis nach heutigen Hörgewohnheiten etwas anachronistisch wirkt. So richtig bedrohlich klingt nämlich nur - Überraschung - das Schlagwerk, nur einmal abgelöst durch eine geradezu oberfiese Kontrabaßpassage in einer der letzten Szenen, während die flirrenden Violinen zwar dramatisch, aber keineswegs düster wirken. Man kann aber Britten natürlich keinen Vorwurf machen, daß er 1954 noch nicht ahnen konnte, daß es in seinem Heimatland Jahrzehnte später Bands geben sollte, die musikalische Düsternis praktisch neu erfanden (Black Sabbath hat er ja vielleicht selbst noch kennengelernt, wenngleich auch diese im Vergleich mit My Dying Bride, dem Cathedral-Debüt oder der ersten Anathema-Mini-CD noch geradezu fröhlich klingen), und dem nicht rockmusikerfahrenen Hörer stehen diese Stimmungsvergleiche ja sowieso nicht zur Verfügung. Dafür kommt aber Birger Radde als Geist des Dienstboten Peter Quint allein durch seine bloße Präsenz in den ersten Szenen sehr bedrohlich rüber und baut eine Art Aura auf, bei der der Hörer fast enttäuscht ist, wenn diese durch seine ersten Gesangseinsätze zerstört wird. Aber auch die Art und Weise dieser Zerstörung hat was: Erneut greift Britten auf Stilmittel des Renaissanceoratoriums zurück und gestaltet Quints ersten langen Gesangseinsatz musikalisch ähnlich wie Christi Klage am Kreuz. Quint ist in der Geschichte der Geist, welcher bedeutend gefährlicher wirkt, während der Geist des Kindermädchens Miss Jessel dem mythologischen Bild der Weißen Frau nahekommt (durch die Kostümwahl gut unterstrichen, nur die rote Haarfarbe paßt nicht dazu), das ja nicht durchgängig negativ besetzt ist. Ulrike Barz spielt und singt diese Geisterrolle ebenso solide wie Anna-Clara Carlstedt die der Haushälterin Mrs. Grose, während Ulrike Fulde als Governess förmlich über sich hinauswächst und abgesehen von einer kurzen Agoniephase stets eine starke Frau spielt, dazu erstklassig singt und den Zuschauer nicht teilnahmslos im Publikum sitzen läßt. Zu Recht erntet sie den intensivsten Schlußapplaus aller Beteiligten. Über das Alter der Kinder Flora und Miles geben meine Quellen keine Auskunft (interessanterweise hatte ich beim Heimfahren "Nina" von Udo Lindenberg im Autoradio, die schwierige Beziehung eines Erwachsenen zu einem 14jährigen Mädchen thematisierend); fest steht jedenfalls, daß Pei-Ying Lee allein schon aufgrund ihrer fast kindlich wirkenden Statur eine Art Idealbesetzung für die Rolle der Flora darstellt. Herzerfrischend auch ihre Darstellung von Floras jugendlichem Überschwang, wohingegen ihr Abgang in der vorletzten Szene nicht ganz so wütend rüberkommt wie erwartet. Stimmlich überzeugt sie in ihren Solopartien wie gewohnt, hat aber das Problem, sich in den (reichlich vorhandenen) Passagen, wo bis zu fünf vom Stimmspektrum her recht ähnliche Partien nebeneinander agieren (also Flora, Miles, die Governess, Mrs. Grose und Miss Jessel), sich akustisch kaum durchsetzen zu können. Aber vielleicht war auch das rollentechnisch gewollt - als Kind spielt man im Konzert der Erwachsenen ja zumeist die letzte Geige. Bleibt Miles, für den man offenbar keinen geeigneten Altus oder gar Knabensopran fand und deshalb Janet Bens besetzte - eine gute Wahl, wie sich schnell herausstellt, denn auch hier konstatiert der Rezensent eine eindrucksvolle Sanges- und auch Spielleistung, zumal der Junge keineswegs zwingend hintertrieben bis böse, sondern bisweilen eher schalkhaftig wirkt und damit ein Abgleiten der Rolle in eine Schwarzweiß-Färbung verhindert wird.
Britten versteht es, den Spannungsbogen der Handlung auch für diejenigen aufrechtzuerhalten, die das Programmheft schon vor Beginn gelesen haben; nur wenige Momente (hauptsächlich zu Anfang konzentriert; es will mitunter nicht so richtig vorwärtsgehen) hätten eine geringfügige Straffung vertragen können. Das Problem liegt aber woanders: Der Librettist Myfanwy Piper, der die Novelle von Henry James für die Oper bearbeitete (es sollte nicht sein letzter Auftrag für Britten gewesen sein; 1973 etwa verarbeitete er Thomas Manns "Tod in Venedig"), hat entweder recht oberflächlich gearbeitet, oder aber Henry James selbst läßt schon in der Novelle (die ich noch nicht gelesen habe) zu viele Fragen offen. Das psychologische Bild nämlich bleibt über weite Strecken recht oberflächlich; die Frage, warum Peter Quint und Miss Jessel nach ihrem Tod keinen Frieden finden können, bleibt ebenso unbeantwortet wie als logische Folge diejenige nach der Art und Weise einer möglichen Erlösung, was wiederum den Zugriff der beiden auf die Kinder zu einer diffusen Angelegenheit macht und somit eigentlich die Handlung von Grund auf zu einer wackligen Angelegenheit werden läßt. Ein Happy-End hat ja niemand erwartet (wenn Hollywood den Stoff eines Tages verfilmen sollte, wird's zwar vermutlich doch eins geben, aber ...), nur bleibt bei intensiverer Betrachtung des Geschehens nicht selten ein "Warum?" im Hirn des Hörers zurück. Da sind die englischen Landhauskrimis mit Joachim Fuchsberger (um mal ein atmosphärisch ähnliches Beispiel anzuführen) stringenter aufgebaut, wenngleich Britten, Piper und James eigentlich auch die "Freddy Krüger"-Serie ideentechnisch vorweg nehmen und damit regelrecht fortschrittlich wirken. Das bemerken auch etliche Rezensionen aus dem Erscheinungsjahr von James' Novelle, die im Programmheft abgedruckt sind. Aber dort findet man auch noch Abhandlungen wie Kants "Die 'Nähe' der Totengeister" oder gar einige Paragraphen aus Johann Heinrich Jungs "Theorie der Geisterkunde", welche dem Hörer Hintergrundwissen vermitteln sollen, das dieser dann aber nicht in Britten-Pipers Werk ausgedrückt vorfindet. Schlußendlich muß ob meiner Unkenntnis der Novelle auch ungeklärt bleiben, ob die Namenssymbolik von James bewußt eingesetzt wurde (also Flora nach der griechischen Göttin oder Quint übersetzt als der Fünfte, zudem der in Miles' Gedankenwelt vorkommende Malo als Ableitung des Apfelbaums, dessen wissenschaftlicher Name ja bekanntlich Malus malus lautet); in der Oper selbst finden sich keine diesbezüglichen Verdachtsmomente.
Regisseurin Claudia Zahn hat die Oper schon in den USA auf die Bühne gebracht und kann auch in Leipzig auf eine stringente Inszenierung verweisen, bei der lediglich die auf der zwar abgedunkelten, aber offenen Bühne Stühle, Tische und Betten schleppenden Techniker unglücklich wirken. Das karge Bühnenbild dagegen erzeugt allein schon eine angedüsterte Atmosphäre, die nur gelegentlich durch an die rückseitige Hauswand projizierte Hintergrundbilder erwärmt wird und dem Grundtenor des Werkes damit voll und ganz entspricht. Für dessen konzeptionelle Schwächen kann das an diesem Abend agierende Team ja nichts - aber die Mannschaft holt als Ganzes schon viel raus, die zum Teil hervorragenden Einzelspieler tun das übrige dazu und machen die Inszenierung zum Erfolg.



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