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Jubiläumskonzert   06.02.2008   Chemnitz, Stadthalle
von rls

Eigentlich hätte es ja "Jubiläenkonzert" heißen müssen, denn die Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz hat derer gleich zwei zu feiern, das 175. Gründungsjubiläum des damals "Stadtorchester" geheißenen Klangkörpers und die 25 Jahre zurückliegende Verleihung des verpflichtenden Namens "Robert-Schumann-Philharmonie". Nun soll "verpflichtender Name" nicht so verstanden werden, daß man zum Jubiläum unbedingt hätte Schumann aufs Pult legen müssen - das Programm funktioniert zweifelsohne auch in der gebotenen Form. Ein Rückgriff in die Vergangenheit steht am Dirigentenpult, nämlich Oleg Caetani, der von 1996 bis 2001 als Generalmusikdirektor mit dem Orchester arbeitete und den das Orchester offensichtlich auch heute noch liebt, obwohl er geographisch mittlerweile zum Antipoden geworden ist. Mitgebracht hat Caetani seine Frau Susanna Stefani Caetani als Solistin des 1. Klavierkonzertes von Béla Bartók, und die führt den 1. Satz mit großer Konsequenz vom monooktavischen Beginn, der von einzelnen "Grollstimmen" wirkungsvoll untermalt wird, über die schönen Dialoge mit dem Holz und die fast jazzigen Parts nach der ersten Generalpause gekonnt durch den immer wilder werdenden orchestralen Dschungel, aus dem bisweilen der Kopf eines Modest Mussorgski herauszulugen scheint. Nur der Schluß des 1. Satzes läßt an Genauigkeit zu wünschen übrig, und der generelle Klaviersound ist auch nicht das, woraus die Träume des Liebhabers bestehen - geringfügig zu trocken, fast blechern gibt sich der große schwarze Kasten. Über seine Klangintensität sind sich der Rezensent und seine Begleitperson übrigens uneinig: Während letztgenannte eine deutliche Unterrepräsentation des Klaviers im Gesamtsound bemängelt, ist der Rezensent mit der Präsenz des Tasteninstruments außerhalb der infernalischen Passagen eigentlich recht zufrieden. Einigkeit besteht im zweiten Satz, in dem Bartók beinahe die Minimal Music erfunden hätte, würde er da nicht gelegentlich in die flächigen Klänge noch ein paar Vielnotenballungen einwerfen lassen, und hier ist die Pianistin lautmalerisch in ihrem Element. Wenn man genau hinhört, entdeckt man einige minimale Tempovariationen, die beispielsweise an der Stelle mit den drei Stakkatonoten das Salz in der Suppe ausmachen. Die restlichen Instrumentalisten lassen sich offenbar anstecken und bekommen trotz leicht verpatzten ersten Einsatzes eine richtig schöne Holzfuge hin. Im dritten Satz wähnt man sich dann auf einem ungarischen Dorffest - keine Ungewöhnlichkeit bei Bartók, der auch als intensiver Volksliedsammler bekannt war und Material aus dieser Sammeltätigkeit in sein Schaffen einfließen ließ. Strukturelles Problem ist halt nur, daß er dieses Material, besonders die Janitscharenmusik kurz vor Schluß, erst hier im dritten Satz einführt, als eigentlich schon alles gesagt scheint und man sich als Hörer irgendwie strukturell verkohlt vorkommt. Dafür können Orchester, Dirigent und Pianistin natürlich nichts, auch dafür nicht, daß einen der kurze, wenngleich furiose Schlußpart irgendwie unbefriedigt im Regen zurückläßt.
Nach der Pause steht ein anderes Werk mit der Ziffer 1 auf dem Programm - im Gegensatz zu Bartóks Klavierkonzerten sollten es die Sinfonien Gustav Mahlers allerdings bis zur Ordnungszahl 10 bringen, wenngleich der zehnte Streich nicht mehr fertiggestellt werden konnte, was die Mär, daß alle großen Sinfoniker über ihre Neunte nicht hinauskämen (Beethoven, Bruckner, Dvorak, später Vaughan Williams und nun halt auch noch Mahler), weiter befruchtete und erst durch Dmitri Schostakowitsch entscheidend durchbrochen worde, wobei auch dessen Leben nach der 9. Sinfonie mal wieder jahrelang am seidenen Faden hing, dessen Ende Stalin in der Hand hatte. Mahlers 1. Sinfonie war in gar nicht so großer räumlicher Entfernung von Chemnitz geschrieben worden, nämlich in Leipzig, wo Mahler zwei Jahre lang Zweiter Kapellmeister neben Arthur Nikisch war, und am Fertigwerden der Sinfonie hatte paradoxerweise Kaiser Wilhelm I. einen entscheidenden, wenngleich unfreiwilligen Anteil: Als er im März 1888 gestorben war, wurden zehn Tage Staatstrauer angeordnet, in denen auch der Theater- und Konzertbetrieb ruhte, so daß Mahler Zeit hatte, das konzipierte Werk zu vollenden; uraufgeführt wurde es allerdings erst im Folgejahr in Budapest, wohin der Komponist mittlerweile als 1. Kapellmeister gewechselt war. Das Werk beginnt mit einem programmatisch nervösen überlangen a, zu dem diverse Holzeinsätze treten, vom Chemnitzer Holz zwar nicht immer hundertprozentig treffsicher intoniert, aber trotzdem die gewünschte sinistre Stimmung erzeugend. Im fast kammermusikalisch geprägten Hauptteil des Satzes steigert sich aber auch das Holz (hübsche Kuckuckseinwürfe!), ein gelungenes Hornthema tritt hinzu, nachdem Mahler erstmals in seinem sinfonischen Schaffen ein musikalisches Mittel eingesetzt hat, auf das er immer wieder zurückgreifen sollte: die Fernwirkung einzelner Blechbläsergruppen, hier gekonnt dargeboten, was man von der Exaktheit im langsamen Teil nicht behaupten kann, wo sowohl die Harfe als auch der erste Tubeneinsatz etwas neben der Spur liegen. Dafür stimmt die Energie im Triumphpart, die Hörner wachsen über sich hinaus, und der erste Satz endet mit vom Dirigenten geschickt ausgeloteten Tempovariationen. Auch im zweiten Satz zeigt Caetani hierfür ein gutes Händchen, wenngleich die Ausgangslage eine andere ist, denn hier zitiert Mahler seine typischen Ländlerthemen, und die Bässe müssen ein stabiles und konstantes Fundament hinlegen, sozusagen grooven. Das schaffen die Chemnitzer, und die Exaktheit steigt weiter. Dennoch kommt dieser Satz naturgemäß nicht an die extrem ausgeprägte Ausdruckskraft des dritten heran - auf die Idee, "Bruder Jakob" in eine Mollversion umzuwandeln und daraus eine Fuge von größtmöglicher düsterer Atmosphäre zu stricken, muß man erstmal kommen, eine der Größe der Idee angemessene kompositorische Anlage ist das nächste Problem, und schließlich wäre da noch die Umsetzung zu beachten, in der die Chemnitzer beachtliche Schwärzegrade erreichen, in den Mittelpart aber ein wenig zu viel Johann-Strauß-Kleister schmieren, bevor sie die Reprise der Fuge trotz höherer Klangfarbenvielfalt wieder eindrucksvoll trist gestalten. Der Kontrast zum energisch polternden vierten Satz stimmt - das Gepolter wird gar so intensiv, daß die große Trommel aus dem Leim zu gehen droht und ihr Bediener zu pausenloser Reparaturbemühung während (!) des Satzes gezwungen ist; immerhin, sie hält bis zum Schluß. Ein paar kleine Elemente hätten noch verbessert werden können, etwa der zwar dynamisch gute, aber nicht ganz exakt gespielte schrittweise Zusammenbruch oder die nicht ganz saubere Holzreminiszenz an den 1. Satz. Dafür überzeugen die Blechbläser (von ein, zwei kleinen Hängern abgesehen), das Fernorchester ist auch wieder da, und der abschließende Triumphcharakter wird von Caetani und dem Orchester gut herausmodelliert (auch lautstärketechnisch, wenngleich letzte Reserven offenbleiben - die bräuchte man dann fürs Finale in Mahlers 2. Sinfonie ...), wenngleich über den "versumpfenden" Schlußton noch zu diskutieren wäre. Trotzdem ernten Caetani und seine Mannschaft verdienten starken Applaus samt einzelner Bravorufe, so daß die nächsten 175 Jahre getrost anbrechen können. Man sieht sich.



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