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Orquesta Sinfónica Nacional de México   07.02.2008   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Seit die Mexikaner Mitte des 19. Jahrhunderts die Hälfte ihres Staatsgebietes (u.a. das komplette Texas) an die USA verloren haben, gelten sie ein wenig als Underdogs. So ist hierzulande von der alten mexikanischen Kultur, also aus der Azteken- oder Mayazeit, oftmals mehr bekannt als über die rezente mexikanische Kultur, und diese Apocryphität gilt auch für die Orchestermusik. Selbst der generell nicht uninteressierte Klassikfreund dürfte an der Aufgabe scheitern, drei mexikanische Orchesterkomponisten des 20. Jahrhunderts auch nur aufzuzählen. Diesem Mißstand etwas abzuhelfen und das interessante Schaffen der mexikanischen Kompositionsleuchttürme zumindest ansatzweise ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit zu rücken hat sich das Nationale Sinfonieorchester Mexikos zum Ziel gesetzt, und daher ging es im 80. Jahr seines Bestehens wieder einmal auf Europatour. Zweieinhalb Wochen standen auf dem Reiseprogramm, und nur ein einziges der Konzerte wurde ohne mindestens ein mexikanisches Werk bestritten, wohingegen eine ganze Anzahl anderer komplett aus mexikanischen Werken bestand. Eins der letzten Kategorie erklang auch in Leipzig als vorletzter Tourstation, und zwar in einem beschämend leeren, vielleicht allenfalls zu einem Viertel gefüllten Gewandhaus. Klar, man kann die Leute nicht zu ihrem Glück zwingen, das Potential an Interessenten wie deren Budget ist auch in einer Stadt wie Leipzig begrenzt, und sonderlich experimentierfreudig ist das Leipziger Publikum in der letzten Zeit bekanntlich sowieso nicht (mehr). Aber die drei Viertel, die nicht da waren, haben eines der besten Konzerte der jüngeren Vergangenheit verpaßt.
Carlos Chávez hatte das Orchester anno 1928 gegründet, und nach einer kurzen Konzerteinführung durch Dirigent Carlos Miguel Prieto (aus einer Musikerdynastie stammend, die schon mehrere Generationen lang das musikalische Niveau Mexikos mit prägt) erklang auch gleich ein Chávez-Werk, nämlich "Sinfonía india", das tatsächlich auf alte indianische Melodien aus präkolumbianischer Zeit zurückgreift und zudem eine Reihe altindianischer Percussioninstrumente in den Konzertsaal einschmuggelt, die man dort gemeinhin nicht zu sehen respektive zu hören bekommt und die daher von Prieto in seiner Einführung kurz vorgestellt wurden (überhaupt, die Einführung: knapp, aber prägnant und informativ - so muß das sein). Zwar mag auf den ersten Blick der radikale thematische Wechsel in Chávez' Schaffen verwundern, denn diese indianische Sinfonie ist seine zweite, während die erste "Sinfonía proletaria" hieß, aber auf den zweiten Blick enthüllen sich inhaltliche Zusammenhänge zwischen Indianern und Proletariat, die man gesellschaftstheoretisch nicht wegdiskutieren kann. Sei's drum: Flirrende Streicher eröffneten mit flottem Tempo das Werk, und es dauerte nicht lange, bis die verschiedenen Percussioninstrumente ihre jeweils ganz singuläre Wirkung entfalteten, wenngleich an manchen Stellen die Balance für das gewöhnliche mitteleuropäische Ohr leicht gestört erschien, etwa wenn die Wassertrommel (allein schon vom Anblick her originell) das Bratschensolo akustisch zu ertränken drohte oder die Percussion auch im folgenden niedlichen Pianopart einen ähnlichen Fremdkörperstatus aufzuweisen schien wie die ganzen Computerdrums in den Pseudo-"Kuschelrock"-Balladen. Aber das sollten Ausnahmefälle bleiben, der große Rest der nur etwa zwölfminütigen einsätzigen Komposition (also nix mit abendfüllend, was man sich beim Begriff "Sinfonie" mit Mahler oder Bruckner im Hinterkopf vorzustellen pflegt - übrigens gehen Harmonik und Melodik außerhalb ihrer indianisch geprägten Abschnitte nicht über das Experimentierlevel hinaus, das man auch schon bei Mahler hören konnte) erfuhr durch die Percussions eine echte Bereicherung, wenngleich auch andere Instrumentengruppen für Glanzmomente sorgen konnten, etwa die freche Piccoloflöte, die sich immer wieder mit einzelnen Pfeiftönen in den Vordergrund drängte, die Streicher, die nach dem hübschen, wenngleich stilistisch nicht einzuordnenden Violinsolo mit raumgreifenden Flächen imaginäre Bilder eines Westernfilms aus der Sonorawüste erzeugten, oder die herrlich knarzenden Hörner, die einen Triumphmarsch mit wechselnden Energielevels einleiteten. Ein ungewöhnlicher, fast kammermusikalischer Part mit dem großen Auftritt der Knochensäckchenpercussion leitete ins große Finale über, einen fulminanten Schluß setzend, der phasenweise schon auf Leonard Bernsteins "West Side Story" vorauszuweisen schien. Ein Werk, dem man öfter begegnen möchte!
Über die Japaner kursierte vor geraumer Zeit das bösartige Klischee, daß sie, sobald sie ein deutsches Auto sehen, es zu Hause originalgetreu nachbauen, und über die Chinesen kursiert dieses Klischee heute. In der Musik gibt es Erscheinungen, die in dieses Klischee zu passen scheinen, auch, und eine solche stand an zweiter Position der Setlist, nämlich das "Romantic Concerto for piano and orchestra in F sharp minor" von Manuel M. Ponce. "Romantic" ist hier das alles entscheidende Stichwort, denn der Mexikaner Ponce, der ab 1905 einige Zeit in Deutschland studierte, beweist hier, daß er in Deutschland gelernt hat, die romantische Musiktradition originalgetreu umzusetzen, und nur an ganz wenigen Stellen wurde beim Hören deutlich, daß wir hier kein verschollenes Klavierkonzert von Mendelssohn, Schumann, Liszt oder gar Chopin vor uns haben. Schon die Orchestereinleitung präsentierte sich als großes raumgreifendes romantisches Etwas, das leise verklang, um dem ersten Solopart des Klaviers Platz zu machen, der nun wieder fast originalgetreu dem Chopinschen Oeuvre entnommen zu sein schien. In der Folge setzte sich die traditionelle Struktur der Dialogpassagen zwischen dem von Jorge Federico Osorio sehr kompetent gespielten Klavier und dem Orchester fort, wobei nicht alle Passagen lautstärketechnisch so richtig austariert waren, beispielsweise als die Oboe mit einem Solo vom Klavier hätte begleitet werden sollen, gegen dieses akustisch allerdings wenig Chancen hatte. Für das Klavierspiel waren viele geradezu flirrende Linien charakteristisch, und das konzerteröffnende Allegro endete wie erwartet, indem der raumgreifende Part vom Anfang noch einmal hervorgeholt wurde. Das Andante espressivo, das sich anschloß, erlebte seinen besten Moment paradoxerweise ohne maßgebliche Beteiligung des Klaviers, denn für diesen Augenblick waren die Streicher verantwortlich, die mit einem großen Schwelgepart unter Federführung ihrer tiefen Fraktionen interessante Klangbilder an die Wand malten, die ausnahmsweise mal wenig mit Mendelssohn und Konsorten zu tun hatten. Der anschließende Klaviersolopart aber rief sofort wieder die entsprechenden Erinnerungen hervor, war urtraditionell Mendelssohn bis (oops) Clayderman; auch im Andante stimmte die dynamische Balance allerdings nicht immer, und zudem holperte der Übergang ins abschließende Vivo kompositorisch eher etwas vor sich hin. Noch einmal hatte Ponce einen Aufhorcher positioniert, als er ein Hochgeschwindigkeitsklaviersolo mit einigen markanten Akkorden stützen ließ, aber der Rest bildete dann doch eher Durchschnittsromantik nach Schema F mit einem auch nur mäßig aufregenden Schluß, zweifellos gut gespielt, aber nichts, was man im Langzeitgedächtnis speichern würde. Nichtsdestotrotz wurde der Pianist so artig beklatscht, daß er noch eine Zugabe auspackte, ein ruhiges und äußerst spannendes Intermezzo von Brahms, mit dem das Publikum friedlich in die Pause entlassen wurde.
Filmmusik stand nach der Pause auf dem Programm, nämlich die zum Film "La noche de las mayas" von Silvestre Revueltas aus dem Jahre 1939, allerdings nicht in ihrer originalen Form, sondern als viersätzige Suite, die der Dirigent José Ives Limantour in den 60er Jahren arrangiert hatte. Auffälliges äußeres Zeichen war zunächst die Erhöhung des Percussion-Personals: Stolze 13 Menschen bedienten alle möglichen und unmöglichen Schlagwerke und erzeugten so schon im Intro des ersten Satzes ein Inferno, das an eine Kopplung von "Also sprach Zarathustra" mit extremen Mahler-Momenten erinnerte. In der Folge sollte ein für Filmmusik fast typisches Kennzeichen immer wieder auftauchen, nämlich die Verwendung riesiger Streicherflächen, deren Veränderung nur in Tonschrittform erfolgt; auch Parallelmelodiken dominierten weite Teile des ersten Satzes, wie man sie weniger in "klassischen" Werken als eben in kontextualen Aneignungen derselben findet. Ein langer Pianoteil verschleppte die Spannung geschickt, und der Rest des ersten Satzes "Noche de los mayas" zeigte einen Wechsel zwischen energischen und fast kammermusikalischen Parts, der zum Schluß hin von den Hörnern dominiert wurde. Der blechblasende Kollege an der Tuba hatte seinen großen Auftritt im zweiten Satz "Noche de jaranas", als er den Hauptteil, der wie ein dynamisch variabler Volkstanz wirkte, mit einem erstaunlichen Groove unterlegen durfte (mit seiner Schlußwendung des zweiten Satzes sorgte er zudem für Erheiterung des Publikums). Der dritte Satz "Noche de Yucatan" begann mit einem großen Streicherpart und dessem geschickt auskomponierten Absterben, bis nur noch ein schwaches Grollen übrigblieb, das in einen leichten Kammermusikpart überging. Ein hübsches Flötensolo mit Percussionunterstützung fiel auf, und Idylle machte sich breit, die jedoch von brutalen Baßsaitenzupfern (ein Wunder, daß da keine gerissen ist) beendet wurde. Hatte man bis dahin ein gutes, aber noch nicht weltbewegendes Stück Musik gehört, so sollte der Rest aber für die Katapultierung an die nahezu einsame Spitze sorgen. Fast zur gleichen Zeit hatte Dmitri Schostakowitsch seine Leningrader Sinfonie geschrieben, und deren Panzereinmarschpassage ist bekanntlich so ziemlich das intensivste Stück Orchestermusik, das jemals geschrieben wurde - Revueltas schafft es nun aber mit seinem Schlußpart von "La noche de las mayas", diesem ein in der Intensität ebenbürtiges Stück Musik entgegenzustellen, und das Orchester transportierte diese Intensität auf beeindruckende Art und Weise. Hier wurde auch deutlich, wofür denn die 13 Percussionisten gebraucht würden, denn die spielten ein mehrminütiges Solo hohen Tempos, in dem der Hauptsolopart zwischen fast allen Beteiligten wechselte und zu dem Prieto gleich mal ganz aufhörte zu dirigieren, das Spiel einfach laufen lassend. Ein Klaviereinwurf beendete das Drumsolo, die Posaunisten griffen zu Muschelhörnern (!), und nun brach ein völliges Orchesterinferno los, das aber immer strukturiert blieb und nie in völligen Lärm ausartete. Dreimal gliederte Revueltas die Dynamik durch kurzes Verklingen und Wiedereinsetzen des Infernos, zwei weitere Male ließ er als Zäsur aus fff in f herunterschalten, und als man irgendwann dachte, jetzt könne nichts mehr kommen, steigerte Prieto die Vehemenz zu einem fulminant-infernalischen Schluß, wie ihn die Musikwelt selbst von Größen der Klangballung wie Mahler in dieser Manier noch nicht vernommen hatte. (Mahlers 1. Sinfonie hatte der Rezensent einen Abend zuvor live gehört - gegen das Revueltas-Finale war deren Finale gemütliche Kammermusik.) Stehende Ovationen für das Orchester bildeten da nur noch eine Pflichtübung für das Publikum.
Ergo kam das Orchester nicht um eine Zugabe herum und packte Pablo Moncayos "Huapango" aus, also noch ein mexikanisches Werk. Das klang zwar anfangs im Vergleich mit dem soeben von der Bühne gebrausten sonischen Sturm fast verhalten, balancierte aber wie das Revueltas-Werk geschickt auf dem Grat zwischen E- und U-Musik, arbeitete mit traditionellen folkigen Melodien, die es zu cineastischen Wirkungen zusammensetzte und ebenfalls mit viel Percussion stützte. Erneut ließ sich ein musikalisches Band zu Leonard Bernstein spannen, indem einige Elemente auftauchten, die Bernstein ähnlich in "America" verarbeitet hatte. Im Hauptteil sprang der Cantus firmus zwischen den verschiedenen Instrumentengruppen hin und her, gekrönt durch ein fast kinderliedhaftes Harfensolo. Cooler Stoff, befand auch das Publikum, das dementsprechend so lange keine Ruhe gab, bis das Orchester eine weitere Zugabe auspackte - das fünfte mexikanische Stück des Abends, das auf anderen Konzerten der Tour auch mal im regulären Part des Sets gestanden hatte: "Sones de Mariachi" von Blas Galindo. Der prinzipielle Stil entsprach dem der ersten Zugabe, allerdings wob Galindo auch noch andere Stilelemente in sein buntschillerndes Stück ein - das reichte von einem Fernhorn al gusto Mahler bis hin zu Trompetensoloparts, die auch diverse Oberkrainer Blasmusikanten nicht wesentlich anders gestaltet hätten. Im Vergleich zu Moncayo hatte Galindo die Percussion leicht reduziert, aber auch er baute reihenweise traditionelle Melodien ein, damit die künstlerische Potenz des vergangenen Mexiko mit der des rezenten Mexiko geschickt kombinierend. Als in der Generalpause vor dem Schlußakkord noch einer der zweiten Violinisten (der so aussah, wie sich der durchschnittliche Mitteleuropäer einen typischen Mexikaner vorstellt, nur ohne Sombrero halt) aufsprang und "Viva Mexico" skandierte, setzte dieser kleine Gimmick den wirkungsvollen Schlußpunkt unter ein Konzert, bei dem 99% der Anwesenden so viel interessantes Neues, wenngleich gar nicht so Abwegiges entdeckt haben dürften wie sonst auf kaum einem anderen ähnlichen Event, und da geriet das nicht ganz so entdeckungswürdige Ponce-Stück schnell in Vergessenheit ob der Leuchtkraft der anderen vier Werke. Wer weiß, wann man wieder eine ähnliche Gelegenheit bekommen wird.



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