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Boston Youth Symphony Orchestra   26.06.2008   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Wenn man als Jugendorchester Kompositionsaufträge vergeben kann (und sei es auch "nur" an ehemalige Orchestermitglieder, die zwischenzeitlich die Karriereleiter ein großes Stück emporgeklettert sind), muß man schon einen beachtlichen Status erreicht haben. Den besitzt das Boston Youth Symphony Orchestra prinzipiell zweifellos, und ein Auswahlorchester dieses Jugendprojektes spielt nunmehr den letzten Part der dritten Saison des Jugendorchester-Zyklus im Leipziger Gewandhaus. Über mehr Publikum als viele der anderen Jugendorchester (Gustavo Dudamels Venezolaner mal ausgenommen) dürfen sich die Ostküstler zwar auch nicht freuen, zumal am gleichen Abend auch noch das zweite Halbfinale der Fußball-EM strukturell querfunkt, aber wenigstens zeigen sich die Anwesenden in einer gewissen Feierlaune und demonstrieren das in den jeweiligen Applausblöcken auch, obwohl die Orchesterleistung keineswegs durchgehend Anlaß für stehende Ovationen bietet, um mal das Fazit vorwegzunehmen.
Aber der Reihe nach: Mozarts "Cosí fan tutte" stellt den ersten Block des Programms, zunächst mit der Ouvertüre. Die laut Programmheft gerade mal 12- bis 18jährigen Orchestermitglieder (da sind aber auch einige auf der Bühne, die deutlich älter aussehen ...) beginnen recht nervös, fangen sich aber schnell, auch wenn die Streicher etwas an der wünschenswerten Klarheit vermissen lassen - dafür perlt das Holz schön. Trotzdem wird man die ganze Zeit das Gefühl nicht los, irgendwas passe nicht so richtig, kann es aber nicht entschlüsseln. Ist das Orchester für Mozart zu groß? (Obwohl die Besetzung hier schon reduziert ist?)
Das jedenfalls ist der Knackpunkt in der ersten der beiden Arien aus der gleichen Oper, "Come scoglio". Zwar nimmt der sehr gestenreich dirigierende und in seinen Bewegungsabläufen fast an Rumpelstilzchen erinnernde Federico Cortese das Orchester zurück, aber für die Begleitfunktion eben nicht weit genug, und so muß Viktorija Kaminskaite, bekanntlich keine Schlechte, sehr viel Power geben, um sich irgendwie Gehör zu verschaffen. Das gelingt nur um den Preis, daß ihre angenehme gedeckte Stimme in den Höhen zu angestrengt klingt; in den tieferen Passagen kommt sie gar nicht erst durch. Das sorgt offensichtlich für Nervosität, wie der unsaubere Schluß und erst recht der von allen Beteiligten viel zu kribbelig interpretierte Anfang der zweiten Arie "Per pietà" demonstrieren. Aber die Lage beruhigt sich wieder, die späteren Wechsel aus Ruhe und Hektik gelingen gut, und die Sopranistin entspannt sich sogar so weit, daß selbst die leisen Höhen deutlich sauberer und leichtfüßiger von der Bühne geschwebt kommen und für einen versöhnlichen Schluß dieses Programmpunktes sorgen könnten, wenn sich da nicht auch der Schwachpunkt des ganzen Konzertes eingemischt hätte: Die mehr oder weniger komplette Hornfraktion erwischt einen rabenschwarzen Tag - etliche Passagen klingen so gequält, als ob der Spieler dringend auf den Lokus müsse, andere sind so schief wie der Turm von Pisa, was hier bei Mozart noch nicht ganz so ins Gewicht fällt, später bei Mahler aber noch deutlicher werden soll.
Den zweiten Block bildet der erwähnte Kompositionsauftrag, der an Robert Beaser gegangen war, seines Zeichens Kompositionsprofessor und Fachrichtungsdekan an der Juilliard School New York, aus Boston stammend und irgendwann in der mittlerweile 50jährigen Geschichte des Orchesters selbst durch dessen Schule gegangen. "Evening Prayer" heißt sein Werk, das zwar liturgisch überhaupt nicht verwendbar ist und im Versuch eines solchen Einsatzes eher seine Exkommunikation zur Folge haben könnte, das aber prinzipiell zu gefallen weiß und dem man sein Kompositionsjahr 2008 im positiven Sinne kaum anhört. Beaser komponiert weitgehend tonal und unter Heranziehung seit Jahrhunderten gängiger Harmoniemodelle, ohne aber eine gewollte Retrospektivatmosphäre zu vermitteln, wenngleich das Grundthema schon älter ist: "Esti Dal" heißt das ungarische Volkslied aus einer von Zoltan Kodály zusammengetragenen Sammlung, das Beaser in seinem einsätzigen Werk verarbeitet. Der Rezensent steht vor der undankbaren Aufgabe, ein Werk vorstellen zu müssen, zu dem er angesichts der erst elf Tage zuvor erfolgten Uraufführung keinerlei Vergleichsmaterial hat - also auf ins Gefecht: Das Orchester verdoppelt sein Personal, gleich sechs Schlagwerker sind besetzt, von denen mehrere auch noch verschiedene Instrumente zu bedienen haben, und am Schluß stellt sich alles als gewaltiger Eklektizismus heraus. Beaser fügt jedenfalls zusammen, was ihm gerade unter die Finger gekommen ist, und erstaunlicherweise schafft er es, das Ganze eben nicht wie ein Sammelsurium klingen zu lassen, sondern tatsächlich wie ein Werk, wenngleich außer dem Themenmaterial nur ein chimärischer roter Faden erkennbar ist und das Ganze eine paradoxe Parallele zu Johannes Brahms offenbart, dessen Ungarische Tänze ja im Resultat mit ungarischem Tonmaterial auch nicht (mehr) viel zu tun hatten und wie Beasers "Evening Prayer" Beispiele darstellen, wie sich der Außenstehende Ungarn vorstellt. Die effektseitig eher kleinteilige Struktur konnte man ja praktisch bereits vorhersagen, die Posaunen spielen mitunter eher Black Gospel oder Märsche, das erste Forte klingt nach Freejazz (war aber vermutlich auch so gedacht) - und dann kommt das Herzstück des Werkes, ein ausgedehnter epischer Part ohne Schlagwerk, eher langsam, sehr gut durchgearbeitet, mit sehr schöner Holzarbeit und harmonisch dem entsprechend, was vielleicht Mahler oder gar noch ältere Meister aus dem Themenmaterial gemacht hätten. Danach geht die große Zusammenfügungsarbeit weiter, Alt und Neu paaren sich in klassischen A-C-B-A-Tonfolgen (man wundert sich geradezu, daß die nicht zu B-A-C-H weiterentwickelt werden), die Percussion verrät ein genaues Hinhören bei Leonard Bernstein, während der anfangs noch ohne Schlagzeug auskommende Triumphpart eher in Richtung Star Wars weist, über einen romantisch-schmelzenden Streicherpart nochmals zur Wiederkehr findet - das Stück endet dann aber mit einem süßlich-schiefen Teil, der die genannte Undankbarkeit der Aufgabe des Rezensenten illustriert: Im Gegensatz zur älteren Musik weiß man hier eben nicht, ob die schrägen Parts so gewollt oder einer Schwäche des Orchesters zuzuschreiben sind. In der Gesamtbetrachtung zeigt sich "Evening Prayer" als eines der zugänglichsten Stücke heutiger E-Musik-Produktion, wenngleich nicht jeder den beschriebenen Eklektizismus goutieren mögen wird; ob es sich auch im Repertoire anderer Orchester behaupten wird, bleibt abzuwarten, wobei die Chancen nicht schlecht stehen, denn wann bekommt man schon mal ein neuzeitliches Orchesterwerk, bei dem die Gefahr, daß das Publikum wegen schräger Disharmonien und brutaler Kakophonien schreiend davonläuft, gegen Null tendiert? Beaser hat sich den Applaus jedenfalls durchaus verdient und das Orchester wahrscheinlich auch.
Zum dritten Mal innerhalb von dreieinhalb Monaten steht Mahlers 1. Sinfonie auf dem Konzertprogramm des Rezensenten - eine eher konventionelle, sehr solide Leistung der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz und eine wohl aufgrund seines Sitzplatzes fast kammermusikalische Version des Philharmonischen Orchesters Altenburg-Gera liegen hinter ihm. Die jungen Frauen und Männer aus der Stadt des Sturms auf diverse Teefrachter samt ihrem Dirigenten Federico Cortese setzen nun eine bisweilen fast technokratisch anmutende Interpretation daneben, die allerdings leider mehr Nach- als Vorteile offenbart. Schon der Anfang des ersten Satzes läßt im Zusammenklang viel zu wünschen übrig, und erst vor der ersten Pizzikatopassage ist eine halbwegs organische Gesamtheit geschmiedet, deren Reinheitsgrad im folgenden allerdings wieder starken Schwankungen unterworfen sein wird, wie etwa die viel zu grellen Fortissimi gegen Ende dieses Satzes offenbaren - wenn das die oft gerühmte spezielle Klangkultur des Bostoner Orchesters sein soll, muß man polemisch einwerfen, daß es dann gut ist, wenn sie diesem Orchester als Spezialität verbleibt und sich nicht weiter verbreitet. Auch die Hörner sorgen anfangs nicht gerade für Ordnung, steigern sich im Verlaufe des ersten Satzes zwar, aber wenn sie mal solistisch dran sind, geht's mit der Klangkultur wieder deutlich bergab. Das wird im Scherzo nicht besser (abschreckend: das Ende des ersten Teils), wobei der Einleitungspart wieder diesen extrem teutonischen Touch besitzt, den der Amerikaner dem Deutschen immer nachsagt (da haben Rammstein im kollektiven Gedächtnis Spuren hinterlassen ...). Das Trio kann zumindest mit mäßiger Eleganz aufwarten, zeigt aber in die richtige Richtung, denn auch der Schlußpart des zweiten Satzes gelingt eleganter und bahnt den Weg für eine erstaunliche Orchestersteigerung, die sich mit dem Adagio deutlicher Bahn bricht. Cortese nimmt das Adagio extrem langsam und bereitet damit für einige Orchestermitglieder Möglichkeiten, einfühlsame Passagen zu spielen. Der farbige Solokontrabassist macht den Anfang und wagt eine Gratwanderung, indem er das an "Bruder Jakob" angelehnte Hauptthema mit winzigen rhythmischen Feinheiten spickt, an die Mahler als Vermutlich-Nicht-Kenner des Black Gospel und seiner Stilwurzeln noch nicht denken konnte - eine riskante Sache, aber hervorragend und eben mit viel Gefühl umgesetzt. Da können noch nicht alle Instrumentengruppen mithalten, dennoch wird dieses Adagio zum Highlight der ganzen Boston-Interpretation dieser Sinfonie. Dem Übergang ins Finale fehlt so ein wenig der Effekt, die Energie stimmt zwar generell, aber das Blech (auch die vorher durchaus überzeugenden Trompeten) agiert viel zu schräg, und nachdem der leise Part vor der ersten Schlußwendung noch einmal richtig für Seelenstreicheleffekte gesorgt hat (auch oder gerade weil er so klingt, als ob er durch eine Schaumstoffwand hindurch gespielt würde), gelingt den Bostonern ein zwar bombastischer, aber aufgrund der bereits vorher angeschnittenen Dynamikobergrenze nicht mehr gesteigerter Schluß, in dem selbst die Hörner zur Abwechslung mal nicht negativ aus der Reihe tanzen - na bitte, geht doch! In der Gesamtbetrachtung bleibt, auch wenn man die vielen durchaus gelungenen Passagen nicht vergißt, trotzdem eine eher zweifelhafte Interpretation dieser Mahler-Sinfonie, die an nicht wenigen Stellen den Eindruck erweckt, als seien die jungen bis sehr jungen Musiker mit diesem sinfonischen Brocken ganz einfach überfordert gewesen. Das Publikum schließt sich diesem Urteil nicht an und erklatscht sich sogar noch eine Zugabe, die in Gestalt von Leonard Bernsteins "Candide"-Ouvertüre zwar auch alles andere als sauber, aber mit viel Esprit durchs Gewandhaus schallt (wenngleich auch hier Gustavo Dudamel mit seinen Venezolanern den Sieg davontrüge). Ein eigenartiges Gefühl bleibt angesichts des Überforderungseindrucks in der Mahler-Sinfonie dennoch zurück - der Rezensent als Gelegenheitsalpinist geht halt aus gutem Grund nicht zum Pik Kommunismus oder zum Everest, sondern begnügt sich mit dem Ararat oder dem Elbrus, die auch noch höher sind als alles, was sich der Nichtalpinist vorstellen kann.



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