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Dietrich Fischer-Dieskau: Johannes Brahms. Leben und Lieder
von rls anno 2008

Dietrich Fischer-Dieskau: Johannes Brahms. Leben und Lieder

Anno 2008 jährt sich der Geburtstag von Johannes Brahms zum 175. Male (witzigerweise exakt einen Tag nach der Niederschrift dieser Rezension), und so erschien es offensichtlich als eine gute Idee, die bereits anno 2006 als Hardcoverversion erschienene Biographie des großen Hamburgers noch einmal als Taschenbuch herauszubringen. Wie gut diese Idee prinzipiell war, zeigt sich beim Lesen relativ schnell - aber es gibt auch Nachteile; dazu später mehr.
Wenn ein Mann wie Dietrich Fischer-Dieskau eine solche Biographie schreibt, ist die gewählte Herangehensweise schon vorauszuahnen, und sie bestätigt sich schnell: Der Sänger Fischer-Dieskau nähert sich Brahms von dessen Vokalwerken aus und legt den roten Faden ganz klar diesen um den Hals (übrigens irritiert der Untertitel etwas, denn im Vokalbereich hat Brahms ja keineswegs nur Lieder geschrieben, und auch den anderen Vokalwerken widmet sich der Autor mit besonderer Intensität); die sinfonischen Werke etwa werden allenfalls gestreift, und so ergibt sich ein diametral dem Zugang des Rezensenten entgegengesetzter, wobei sich Autor und Rezensent dann logischerweise in der Mitte, also beim "Deutschen Requiem", treffen (eine Gelegenheit, die anderen, heute sehr selten zu hörenden vokalsinfonischen Werke des Hanseaten live zu erleben, hatte der Rezensent bisher nicht, und so freut er sich nach der Lektüre, diese Lücke etwa beim "Triumphlied" eines Tages vielleicht noch schließen zu können). Fischer-Dieskau legt die Biographie, wie das typisch ist, chronologisch an, aber die einzelnen Kapitel überschneiden sich mitunter etwas, da sie nach großen Schaffens- oder sonstigen Lebensphasen untergliedert sind, und diese lassen sich in den seltensten Fällen taggenau voneinander abgrenzen. Eine Randspalte führt überall dort, wo die Behandlung eines neuen Opus beginnt, die Opuszahl an, was das Werk prinzipiell recht übersichtlich macht (ein Werkindex ist im Anhang noch zusätzlich beigefügt) und vor allem einer Lesergruppe hilfreich sein kann, die Fischer-Dieskau offensichtlich neben dem allgemein kulturinteressierten Menschen ganz speziell im Auge hatte: die Sängerinnen und Sänger, die selbst Brahms-Vokalwerke singen. Überdeutlicher Hinweis für diese zielgruppenseitige Ausrichtung sind die Interpretationsempfehlungen, die der Autor vielen der behandelten Lieder beifügt. Das liest sich dann beispielsweise so: "'Klage' (O Felsen, lieber Felsen) lässt zwei Strophen Wenzigs fort. Das Gedicht erschien zuerst als 'Mädchens Klage' in den 'Slowakischen Volksliedern'. Die Interpreten sollten auf den reizvollen Gegensatz von Brahms' Reigen zur Leidenschaftlichkeit im Gedicht achten." (S. 233) Gestört fühlen dürfte sich der "einfache" Leser (also der, der nicht selbst Brahms-Werke singt) durch diese Einlassungen allerdings nicht, denn sie wirken nicht aufdringlich - man vergesse allerdings auch nicht, daß es sich immer nur um persönliche Meinungen und Hinweise, nicht um apodiktische Wahrheiten handelt, wenngleich die Ratschläge in Fischer-Dieskaus eigener Praxis ausgiebig getestet worden sein dürften, und in seiner Diskographie findet sich sicherlich das eine oder andere Exempel, anhand dessen man Stichhaltigkeitsprüfungen der Argumentation vornehmen kann. Einige Werke werden von Fischer-Dieskau allerdings bezüglich ihrer Qualität und/oder praktischen Nutzbarkeit differenziert behandelt, andere empfiehlt er der Verhinderung des völligen Vergessenwerdens dringend an. Seine Kernthese läßt sich so zusammenfassen, daß die Vokalmusik die zentrale Rolle in Brahms' Schaffen spielte, nicht nur, weil er sie von Anfang bis Ende seiner kompositorischen Laufbahn gepflegt hat, sondern auch, weil er von ihr aus sich auf andere Gattungen wie die Sinfonik zubewegte. Daß das Deutsche Requiem deutlich früher entstand als die 1. Sinfonie, wertet der Autor als Fingerzeig in diese Richtung, wenngleich man nicht vergessen darf, daß Schumann schon anno 1853 in den Klavierwerken des jungen Brahms, die ihm vorgelegt wurden, "verkappte Sinfonien" erkannte - auch diese Ausrichtung vergißt Fischer-Dieskau selbstverständlich nicht zu behandeln. Das wie auch alles andere auf den etwas über 300 Seiten tut er übrigens in sehr angenehm zu lesendem Schreibstil, der irgendwie ein bißchen dem trocken-norddeutschen Wesen, das man dem Komponisten oftmals nachzusagen pflegte, entspricht, auf humoreske Elemente, wie sie Brahms in seiner Korrespondenz immer wieder einzugraben pflegte (seinen Verlegern wie seinen Freunden kündigte er selbst große neue Werke augenzwinkernd immer als kleine unbedeutende Werkchen an), allerdings fast durchgehend (außer in Zitaten aus besagter Korrespondenz) verzichtet.
Und damit wären wir schon bei den Problemfällen des Buches. Zitatquellen weist Fischer-Dieskau nämlich grundsätzlich nicht nach (mit einigen Ausnahmen, wo er den Nachweis verbal in den Text eingeflochten hat), was trotz eines gut bestückten Literaturverzeichnisses (wenngleich auch eines sehr "historischen" - ein Buch von 1997 stellt da schon eine singuläre Erscheinung dar, was man werten kann, wie man möchte) eine konkrete Tiefergeharbeit unnötig erschwert. Fußnoten gibt es zwar, aber diese enthalten ausschließlich biographische Angaben über die Textdichter der Brahms-Lieder - diese Information ist zwar generell als äußerst nützlich zu bewerten, aber die Einheitlichkeit läßt zu wünschen übrig; manche Dichter bekommen eine ausführliche Fußnotenerklärung, andere müssen sich mit einem Halbsatz im Text begnügen, und ein Schema, nach dem ausgewählt worden wäre, läßt sich nicht erkennen. Hermann Allmers etwa, über den mehr Informationen aufgrund seines gegenüber etwa Clemens Brentano deutlich geringeren Bekanntheitsgrades durchaus nützlich gewesen wären, gehört zu denjenigen, die sich mit einem Halbsatz im Text begnügen müssen (Brentano hingegen bekommt eine Fußnote), und macht gleich noch einen weiteren Problemfall deutlich: Ein intensiveres Lektorat hätte erkennen können, daß man sich bei ihm mal auf eine Schreibweise (Hermann oder Herrmann) hätte einigen sollen. Überhaupt hat sich eine größere Anzahl von Flüchtigkeits- oder auch Logikfehlern eingeschlichen, die in einer Erstausgabe schon mal passieren können (wenngleich nicht sollten), in einer Zweitausgabe (und die Taschenbuchausgabe ist ja eine solche) aber einfach nicht mehr vorkommen dürfen. Beispielsweise behauptet der Autor auf S. 141, der Brahms-Biograph Max Kalbeck habe nachgewiesen, daß eine Melodie aus "Von ewiger Liebe" "ursprünglich ein Brautlied mit Sopran-Solo für den Hamburger Frauenchor war, den Brahms im Jahr der Liebe zu Agathe von Siebold 1855 leitete". Das liest sich erstmal nicht unlogisch, und Fischer-Dieskau widerspricht Kalbeck auch nicht, aber wie der Schachspieler zu sagen pflegt, hat die Variante ein "Loch", wenn man weiß, daß keineswegs 1855, sondern 1858 das Jahr der Liebe zu Agathe von Siebold war. Wenn Fischer-Dieskau im Kapitel über "Ein deutsches Requiem" und noch später einmal behauptet, das Werk habe einen erstaunlich schnellen flächendeckenden Siegeszug angetreten, so kontrastiert diese Einschätzung eigenartig zu der auf S. 251: "So wie in Wien vermochten sich Werk und Schöpfer sich keineswegs überall durchzusetzen." S. 209 widerspricht mit der Feststellung "erstmalig in Leipzig mit dem nachkomponierten fünften Satz" in Bezug auf Aufführungen anno 1874 S. 208, die eine 1869er Aufführung nennt, welche laut S. 125 auch schon komplett gewesen sein soll. Zwar läßt sich der Satz auf S. 209 auch so lesen, daß das Requiem 1874 erstmals in Leipzig einhellige Zustimmung erlangt habe (was stimmt, denn die 1869er Aufführung soll nicht sonderlich positiv aufgenommen worden sein), aber dann hätte man ihn auch so unmißverständlich formulieren sollen. Von dieser Kategorie sind noch etliche andere Exempel im Buch; ein besonders fürchterliches von S. 308 soll hier noch genannt werden: "... Otto Brahm, den Intendanten des 'Deutschen Theaters' in Berlin und Vorkämpfer des Naturalismus [...], zu dessen wichtigstem Dramatiker Gerhart Hauptmann gehörte ..." - eine grammatikalische Fehlkonstruktion, die auch durch ihre immer weiter um sich greifende Verbreitung nicht korrekter wird. Sollte es zu einer weiteren Auflage des Buches kommen, wäre eine Tiefenprüfung auf solche Problemfälle dringend anzuraten, und den peinlichsten Fehler kann man bei der Gelegenheit auch gleich noch mit eliminieren: Auf S. 7 verkündet eine "Anm. d. Verlags", die Lieder und Chorwerke seien, da sie im Mittelpunkt des Werkes stünden, in Versalien gesetzt. Das mit dem Mittelpunkt stimmt, und die Auszeichnung ist zur Orientierung beim Lesen auch ausgesprochen nützlich - nur sind es dummerweise keine Versalien, sondern Kapitälchen ...
So ist mit dem Buch eine sehr individuell geprägte und zweifellos lesenswerte Biographie von Johannes Brahms entstanden, allerdings muß sie mit erhöhter Wachsamkeit gelesen werden, um nicht über die logischen Stolpersteine zu fallen.

Dietrich Fischer-Dieskau: Johannes Brahms. Leben und Lieder. Berlin: List Taschenbuch Verlag 2008. ISBN 978-3-548-60828-0. 368 Seiten. 12,95 Euro.






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